2013 - Das beste Jahr der deutschen Geschichte

Beige in beige. Station "Markt". Ein schüchterner Blick in[AD1] den Tempel des öffentlichen Nahverkehrs, wenige Tage nach der Eröffnung von Deutschlands spektakulärstem Verkehrsprojekt. Foto: Alexander Dill

Eine unbequeme These mit einem guten Beispiel

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wenn eine künstlich geschaffene Verwaltungseinheit große Erfolge feiern kann, überträgt sich dieser Erfolg nicht auf alle ihre Glieder. Verarmte Städte und Regionen, die FDP und Dauerarbeitslose etwa werden der hier vertretenen These, in Deutschland gehe das bisher beste Jahr seiner Geschichte dem Ende entgegen, wenig abgewinnen können.

Abstrakt muss die im Trott der allgemeinen Gesellschaftskritik unbequeme These auch nicht ausfallen, wenn man etwa anstatt auf Elbphilharmonie und Berliner Flughafen auf die vor wenigen Tagen eröffneten vier S-Bahn-Haltestellen in Leipzig blickt. Kritiker bezeichnen die eine Milliarde Euro teuren Tempel des ÖPNV, die in handgestoppten vier Minuten absolviert werden, als "kleinste U-Bahn weit und breit".

Gerade am Beispiel des angeblich viel zu teuren und unnützen Projektes des Leipziger Citytunnels zeigt sich aber, dass Erfolg und Gelingen auch eine Frage der Perspektive sind. Das Besondere an den vier neuen Bahnhöfen ist nämlich nicht die Zeitersparnis, wenn man vom Hauptbahnhof zum sich im Wiederaufbau befindlichen Bayrischen Bahnhof gelangen will, sondern die übrigen Haltestellen außerhalb des Tunnels. Neben Hoyerswerda, der Heimat des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich, finden sich im Fahrplan auch viele andere Orte wieder, die zwar meist schön renoviert und saniert daherkommen, aber mit Abwanderung und fehlendem Sozialkapital zu kämpfen haben.

Weißenfels etwa. Altenburg. Falkenberg. Torgau. Bitterfeld. Oschatz. Riesa. Zeitz. Halle. Einst waren die vielen Städte im Umkreis von Leipzig selbst blühende Wirtschaftsmetropolen. In der DDR versuchte man, sie durch künstlich aufrecht erhaltene VEB-Industrien aufrecht zu erhalten. Seit 1990 etablierten sich Dresden und Leipzig als bundesweit attraktive Metropolen. In futuristisch anmutenden Werken produzieren nun Porsche, BMW und VW. Großgewachsene Schönheiten beiderlei Geschlechts strömen aus Kunst- und Journalismusakademien. Pensionäre aus allen Regionen Deutschlands schwelgen in Erinnerung und füllen Konzertsäle wie 5-Sterne-Hotels.

Doch abseits des metropolitanen Highlife kann man ab und zu noch beobachten, wie Ronny und Kevin im Böhse Onkelz-Polo über die ausgestorbenen Dorfstraßen brettern. Nun liegt es an auch an ihnen, ob sie in die neue S-Bahn einsteigen, ihre FH-Reifeprüfung nachholen oder sich einfach unter das internationale Publikum der Leipziger Szenebars mischen möchten.

"S-Bahn Mitteldeutschland", so heißt das Projekt, ist jedenfalls seiner, also unserer Zeit voraus. Anders als die tempofreie A 38 zwischen den neu entstandenen Seen mit ihren teuren Liegeplätzen, Espresso-Lounges, Golfplätzen und dem Belantis-Freizeitpark, adressiert sich die S-Bahn nicht an kaufkräftige Vollbeschäftigte. Sie ist programmatisch ein zumindest fiskalisch defizitäres Gemeingut. Als erste deutsche S-Bahn verfügt sie zudem über eine gesellschaftliche Innovation in diesem Segment: In der ersten Klasse warten schwarze Ledersitze auf Leipziger Edelpassagiere nach Hoyerswerda.

Dass Ministerpräsident Tillich bei der Einweihung die erste Klasse nutzte, wurde von der hanseatischen ZEIT quengelnd vermerkt. Er sei fürs Volk nicht erreichbar gewesen. Noch immer stehen Erste-Klasse-Passagiere unter dem Verdacht, sich auf Kosten der Zweitklässler zu vergnügen. In der Schweiz sieht man, dass es umgekehrt richtig ist: Erst die vielen gutzahlenden Premiumreisenden verhelfen dem Gesamtsystem zu zivilem Ambiente und ausreichenden Einnahmen.

Lichtinstallation als S-Bahnhof: Haltestelle Wilhelm-Leuschner-Platz in Leipzig. Foto: Copyright Freistaat Sachsen

Scheu steigen nun in der prachtvollen Haltestelle "Markt" die[AD2][AD3] Umländer in die eleganten Züge, die in hoher Frequenz und mit ungewohnter Pünktlichkeit das Land der Windräder durchmessen. Dass sie die neuen 1550 Kilometer der sechs S-Bahn-Linien annehmen, ist dringend zu hoffen. Ganze 48.000 Reisende sind bisher pro Tag auf diesen Strecken unterwegs.

Die für erfahrene Bahnkritiker viel größere Überraschung findet sich im Eingangsbereich der Haltestelle "Markt": An einem besetzten DB-Schalter erwarten dort am Weihnachtstag zwei Mitarbeiter die Gäste. Damit dürfen erstmals auch S-Bahn-Fahrer wieder Fahrscheine erwerben und Auskünfte einholen. Ein Angebot, dass viele Politiker und Geschäftsführer als scheinbar nutzlosen Serviceaufwand längst wegrationalisiert hatten. Dabei besteht der öffentliche Verkehr nur aus Menschen und würde ohne Menschen ausbleiben.

Den Reisenden erinnert die Region Leipzig an das holländische Flevoland, das dem Meer abgerungene Freizeit- und Wohnparadies. Auch an dessen Rändern finden sich Bauernhofmuseen und die S-Bahn führt nach Amsterdam.

Das Zeigen von öffentlichem Reichtum in einer Gesellschaft, die bereits seit 1948 ununterbrochen über wachsende Armut und soziale Ungleichheit debattiert, ist ohne Alternative, denn nur ein starker und finanzkräftiger Staat konnte 1990 sechzehn Millionen Flüchtlinge aufnehmen.

Wenn der öffentliche Reichtum, wie er sich im Leipziger Citytunnel zeigt, versiegt, dann haben auch die Ärmeren nichts mehr zu hoffen. In Leipzig etwa kann man selbst 2013 noch vollsanierte Altbauwohnungen mit Dielenböden, Messingklinken und Grohe-Armarturen für 460 Euro im Monat mieten. Die Verluste trugen durch Steuerabschreibung der Staat, durch enttäuschte Mieterwartungen die Investoren.

Auch die Leipziger Mädler-Passage, das neben der Frankfurter Zeilgalerie spektakulärste Projekt des Baulöwen Jürgen Schneider, verblüfft an Heiligabend mit ausgebuchten Stehplätzen, auf denen die Champagnerkübel ein selbstbewusstes Bürgertum aus Geschäftsleuten, Professoren und Anwälten symbolisieren, das sich "sein" Leipzig zurückerobert hat.

Man hätte 2013 nicht erwarten können, dass Deutschland noch immer Kraft und Geld für solche Projekte hat.

Dass auch der Deutsche Aktienindex historisch nicht gekannte Höhen erreichte, dass die Zinsen für die ungeliebten 2,3 Billionen Staatsschulden historisch niedrig ausfielen, sind quantitative Kommentare zu einem qualitativen Geschehen: Deutschland konnte, wie Skandinavien, Österreich und die Schweiz, die Finanzkrise wegstecken.

Die fragile Mischung von Sozialismus und Kapitalismus, die diese Staaten seit Jahrzehnten als Gourmetmenu verfeinert haben, verhindert, dass etwa angesparte Beiträge in den Taschen von Hasardeuren und Oligarchen landen und dass aufgebrachte Massen die Innenstädte verwüsten.

Über 1,2 Billionen Euro wird der deutsche Staat Ende 2013 laut Eurostat an Einnahmen verbuchen können. Die Amerikaner nahmen 2012 nur 1,77 Billionen Euro ein.

Da mag der Financial-Times-Prä-Finanzkrisicäum-Dinosaurier Wolfgang Münchau im Spiegel die Lage von Deutschland 2014 mit der von 1914 vergleichen und zu den ungezählten Merkel-Kritiken eine weitere hinzufügen - am Erfolg der Verwaltungseinheit Bundesrepublik Deutschland im laufenden Geschäftsjahr wird das nichts mehr ändern.

Die Bilanz ist bereits in Arbeit. Sie wird mit den Ausnahmen verarmter Rentner, Arbeitsloser, Niedriglöhner und der FDP unanständig gut ausfallen. Weitere Ausnahmen bitte beantragen.

Und die Not alleinerziehender Mütter und deren Kinder könnte man 2014 statt Vater Staat endlich einmal den offensichtlich abwesenden Vätern, Freunden, Ehemännern anlasten.