2016 ist das bislang tödlichste Jahr im Mittelmeer für Flüchtlinge

Ankunft von Flüchtlingen im OKtober 2015 auf Lesbos. Bild: Ggia/CC-BY-SA 4.0

Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei könnte brüchig werden, über das Mittelmeer kamen in diesem Jahr 294.450 Flüchtlinge, davon 166.880 nach Griechenland

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Bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise gelingt möglicherweise ein Waffenstillstand in Syrien. Der von der deutschen Regierung, vor allem von der Bundeskanzlerin, mit der Türkei ausgehandelte Flüchtlingsdeal geht allerdings allmählich in die Brüche, obgleich Merkel verbissen daran festhalten will, um ihre Regierung nicht durch Opposition aus den eigenen Reihen und der AfD, aber auch nicht durch den Widerstand aus anderen EU-Mitgliedsländern zu gefährden. Solange nur sehr wenige Flüchtlinge aus der Türkei nach Griechenland gelangen wie in letzter Zeit, kann Merkel von Erfolg ihrer Politik sprechen.

Aber nun steigt die Zahl der Flüchtlinge, die aus der Türkei nach Griechenland gelangen, wieder deutlich an. Waren sie zunächst über den Landweg gekommen, so wurde dieser von Griechenland mit EU-Unterstützung durch den Bau einer Mauer gesperrt, die damit am Anfang des neuen Drangs zur Festung Europa durch Grenzsperren stand, sieht man einmal von den Abwehrzäunen in den spanischen Enklaven Melilla und Ceuta ab. Erst als die Flüchtlinge aus den Krisengebieten Syrien, Irak und Afghanistan über das Mittelmeer zu den griechischen Inseln kamen und diese letztes Jahr immer mehr wurden, ist klar geworden, dass diese Grenze mit den vielen Inseln nahe dem türkischen Festland nur mit hohem Aufwand zu sichern wäre. Allerdings müssen Flüchtlinge auf dem Meer gerettet werden und sie können nicht einfach zurückgeschickt werden, wenn die Türkei sie nicht aufnimmt.

Also kam es zu dem Flüchtlingsdeal, bei dem die Türkei den Fluchtweg an der Küste dicht machen sollte, während die EU Milliarden an die Türkei zahlen, den Aufnahmeprozess in die EU beschleunigen und Visafreiheit gewähren wollte - und zudem sich realpolitisch verpflichtete, die Augen vor dem Krieg gegen die Kurden, die Unterstützung islamistischer Gruppen in Syrien und die Errichtung eines zunehmend autoritären Erdogan-Staates zu schließen, der seinen Einfluss auch in Deutschland geltend machte. Das ging einigermaßen, bis es zu dem gescheiterten Putschversuch, den Massensäuberungen und dem Einmarsch in Syrien kam.

Die ersten 8 Tage im September erreichten nach der IOM wieder 979 Flüchtlinge Griechenland, täglich wären das 122. Das sind sehr viel mehr als die paar Flüchtlinge, die nach Abschluss des Deals zunächst kamen, wenn auch immer noch deutlich weniger als die Flüchtlingsmengen, auf dem Höhepunkt der "Krise" für die EU täglich kamen. Seit Beginn des Jahres kamen 166.880 Flüchtlinge in der Regel über das Mittelmeer nach Griechenland, nur 1.865 über Land, im selben Zeitabschnitt des Vorjahrs waren es 382.000. Im August gelangten 3.429 Flüchtlinge nach Griechenland, im Januar vor dem Deal waren es noch 67.000.

Der Grund für den erneuten Anstieg sei nicht klar, schreibt die New York Times. Viele hätten in der Türkei für einige Zeit gelebt. Womöglich hätten sie Angst, dass die Milliarden Euro, die die EU zu zahlen versprochen hat, mit den Schwierigkeiten zwischen der Türkei und der EU und überhaupt der gefährlichen Lage im Land, nicht mehr kommen werden, wodurch ihre Hoffnung auf ein besseres Leben weiter in die Ferne rücken würde. Zudem ist deutlich geworden, dass die Griechen kaum Flüchtlinge zurückschicken, die Wahrscheinlichkeit also erst einmal groß ist, in der EU bleiben zu können. Vor allem aber scheinen die Preise für die Überfahrt mit den gesunkenen Flüchtlingszahlen gefallen zu sein. Während für die Überfahrt von den Schleusern bis zu 1500 US-Dollar verlangt wurde, seien jetzt nur noch 500 US-Dollar zu zahlen. Auch hier geht es kapitalistisch um Angebot und Nachfrage auf dem Markt. Allerdings ist hier immer die Frage wie man zählt. Betrachtet man die Ankunftszahlen in Griechenland vom 28. August bis zum 3. September sowie vom 4. September bis zum 11. September dann ist die Zahl eigentlich von 1.031 auf 869 Ankommende gesunken. Gleichwohl ist die Lage in Griechenland, wo nach IOM 59.569 Flüchtlinge leben, ernst und steigt deren Zahl weiter an (Griechenland: Die Probleme werden immer mehr).

Der türkische Präsident Erdogan hatte allerdings auch schon gedroht, die Tore für eine neue Flüchtlingsflut zu öffnen, wenn die EU die Absprachen nicht einhält. Schon nach dem gescheiterten Putsch wurde der Konflikt stärker, weil Erdogan den angeblich mangelnden Rückhalt der EU für seine Regierung und deren Vorgehen gegen die Gülenisten rügte, die für den Putsch verantwortlich sein sollen. Zudem kritisiert Erdogan, die EU gegenüber der Türkei beim Flüchtlingsdeal nicht ehrlich handeln und nicht einmal die versprochenen Gelder zahlen.

Nach den Zahlen der International Organization for Migration (IOM) sind in diesem Jahr bis zum 12. September immer noch 294.450 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa gekommen, im Vorjahr waren es 518.000. Nach Italien kamen 126.931 im Laufe des Jahres, ein wenig mehr sogar als 2015, als es 122.113 nach Italien schafften. Zudem ist die Zahl der Ertrunkenen gestiegen. 386 starben auf der Fahrt nach Griechenland oder Zypern, 2760 auf der Fahrt nach Italien, 2015 waren es 280 bzw. 2622.

"2016 ist das bislang tödlichste Jahr im Mittelmeer. Das Sterberisiko auf der Route von Libyen nach Italien ist zehnmal höher, als auf der von der Türkei nach Griechenland", kommentierte UNHCR-Sprecher William Spindler. In den vergangenen 12 Monaten seien durchschnittlich 11 Menschen täglich ertrunken. Die Zahlen würden die dringende Notwendigkeit zeigen, dass "die Staaten die legalen Zugangsmöglichkeiten für Flüchtlinge, etwa durch Umsiedlungen, private Spenden, Familienzusammenführung und Stipendienprogramme, erhöhen, so dass sie nicht auf gefährliche Überfahrten und die Hilfe von Schmugglern angewiesen sind".

Spindler rügte denn auch, dass die EU bislang weit hinter ihren Zielen, die letztes Jahr beschlossen wurden, zurückgeblieben sei, zumindest 160.000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien zu verteilen. Bislang seien 4.776 Asylbewerber in anderen Ländern aufgenommen worden, das sind gerade einmal 3 Prozent.