24 Stunden arbeiten? Fragwürdige Pläne der Ampelkoalition
Eine gesetzliche Regelung zur Arbeitszeiterfassung wird seit zwei Jahren verschleppt. Bei der Rund-um-die-Uhr-Pflege fehlen Arbeitszeitregeln komplett.
Die Arbeitszeitfrage ist wieder da. Aus der FDP gibt es Forderungen nach einer Verschlechterung des Arbeitszeitgesetzes, die sich selbst "Fortschrittskoalition" nennende Bundesregierung will Überstunden fördern.
Lange haben Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) über einen Nachtragshaushalt und einen Etatentwurf für 2025 gerungen. Medienberichten zufolge will die Regierung Überstunden und Arbeiten über das Renteneintrittsalter hinaus attraktiver machen.
Dafür sollen offensichtlich für bezahlte Überstunden keine Steuern und Krankenkassenabgaben mehr abgeführt werden. In Betrieben mit Tarifbindung gelte das für Mehrarbeit oberhalb von 34 Wochenarbeitsstunden, in Firmen ohne Tarifvertrag ab der 41. Arbeitsstunde, meldet der Tagesspiegel.
Bezahlte Überstunden abgabenfrei?
Der Beschluss der Regierung zu den Überstunden, zeigt, wie weit weg die Akteure vom betrieblichen Alltag sind. Denn Überstunden werden häufig nicht bezahlt - hierzulande wurden im vergangenen Jahr laut Tagesschau 1,3 Milliarden Überstunden geleistet. Demnach fielen pro Arbeitnehmer 2023 durchschnittlich 31,6 Überstunden an.
Allerdings war mehr als die Hälfte der geleisteten Überstunden 2023 unbezahlt.
Daran hat die Bundesregierung ihren Anteil. Denn im September 2022 fällte das Bundesarbeitsgericht (BAG) eine bahnbrechende Entscheidung: Unternehmen haben die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten zu dokumentieren. Bereits der Europäische Gerichtshofs (EuGH) hatte die Bundesregierung 2019 zum Handeln aufgefordert. Laut EuGH sind alle EU-Länder zur Einführung einer objektiven, verlässlichen und zugänglichen Arbeitszeiterfassung verpflichtet.
Kein Gesetzesvorschlag zur Arbeitszeiterfassung
Nun ist der Gesetzgeber gefordert, da das BAG offenlässt, wie die Zeiten zu erfassen sind, per Personal-Software, über Excel-Dateien oder auf Papier. Direkt nachdem die Richter ihre Entscheidung bekannt gegeben haben, kündigte Bundesarbeitsminister Hubert Heil ein Gesetz dazu an. Bis heute, zwei Jahre später, gibt es dazu keinen Beschluss des Bundeskabinetts.
"Zur gesetzlichen Ausgestaltung der Aufzeichnungspflicht finden derzeit regierungsinterne Gespräche statt", sagte eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums gegenüber businessinsider.de. Unerwähnt lässt sie, wie zerstritten die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP bei dem Thema sind.
Die FDP will das Zeiterfassungsthema nutzen, um weitere Forderungen durchzusetzen. Sie macht sich im Bundestag für ein Ende des gesetzlichen Acht-Stunden-Tags in der heutigen Form stark. Das Wachstumspaket sei "ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung, dem perspektivisch die vollständige Umstellung von der Tages- auf eine Wochenhöchstarbeitszeit folgen sollte", sagt FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler.
FDP will Ende des Acht-Stunden-Tags
Die FDP übernimmt hier die Argumentation der Unternehmensverbände, die auf die EU-Arbeitszeitrichtlinie verweisen. Der Gesetzgeber kann für die Beschäftigten bessere Regelungen treffen. Aber die europarechtlichen Regelungen sehen lediglich eine Ruhezeit von elf Stunden innerhalb eines 24-Stunden-Zeitraumes vor.
Demnach könnte die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum 48 Stunden betragen. Dies würde erheblichen Druck auf die Beschäftigten ausüben.
Die Interessen der Belegschaften sind dabei ohne Belang. Denn nach einer Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) besteht über alle Generationen hinweg ein Wunsch nach weniger Arbeit.
Alle wollen weniger arbeiten
"So hat sich die Wunscharbeitszeit zwischen 2007 und 2021 von Unter-25-Jährigen um drei Stunden verringert, in der Altersgruppe der 26- bis 40-Jährigen sank die durchschnittlich präferierte Arbeitszeit um rund zwei Wochenstunden und bei den über 40-Jährigen ebenfalls um knapp drei Stunden", berichtet die Wirtschaftswoche.
Die Behauptung, das Arbeitszeitrecht sei nicht flexibel genug, hält die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi für einen "rein ideologiegetriebenen Mythos." Schon heute seien Regelungen flexibel: "In Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen regeln wir bereits tausendfach im Land flexible Arbeitszeitmodelle. Dabei werden betriebliche Bedarfe ebenso berücksichtigt wie Wünsche nach Arbeitszeitsouveränität der Beschäftigten für beispielsweise Kinderbetreuung und Pflege", betonte Fahimi gegenüber der Augsburger Allgemeinen.
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Dass in der Praxis durchaus Arbeit rund um die Uhr verlangt wird, spielt ebenfalls keine große Rolle. Denn die Bundesregierung sitzt nicht nur die gesetzliche Regelung zur Zeiterfassung aus. Im Koalitionsvertrag der Ampel war auch versprochen worden: "Wir gestalten eine rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich."
24-Stunden-Betreuung
Es geht um sogenannte "Live-In"-Betreuung. 300.000 bis 700.000 meist osteuropäische Frauen arbeiten hierzulande und betreuen mehr als 4 Millionen pflegebedürftige Menschen in privaten Haushalten.
Sie wohnen bei den zu Pflegenden und arbeiten, wenn es erforderlich ist: meist rund um die Uhr, häufig sieben Tage die Woche. Arbeitsrechte wie das Arbeitszeitgesetz und Ansprüche auf Arbeits- und Gesundheitsschutz werden dabei systematisch ignoriert.
Am 24.06.2021 hat das Bundesarbeitsgericht zumindest entschieden, dass Pflegekräften aus dem Ausland Mindestlohn zusteht.
"Unsere bulgarische Kollegin hat mit Unterstützung von ver.di und Faire Mobilität ein Grundsatzurteil für viele migrantische Frauen erstritten. Die Versorgung älterer Menschen in einem reichen Land wie Deutschland darf nicht durch systematische Ausbeutung und Entrechtung von Frauen aus dem Ausland erfolgen. Arbeitsrechte gelten für alle!", erklärt dazu Romin Khan, der bei ver.di für Migrationspolitik zuständig ist.
Mindestlohn erstritten
Die Arbeitsbelastung in der Live-In-Pflege wirft allerdings weitere Fragen auf.
Der Regelfall in diesem Bereich sind angeblich selbstständige Personen, die aber faktisch nach unserem Rechtsgefüge als Scheinselbstständige in den Privathaushalten unterwegs sind. Bei den Solo-Selbstständigen besteht ein großes Risiko der Scheinselbstständigkeit, was zu einer nachträglichen Feststellung der Sozialversicherungspflicht führen würde, sodass Beiträge und Steuern nachgezahlt werden müssen.
Prof. Dr. Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften am RheinAhrCampus Remagen der Hochschule Koblenz
Eine Untersuchung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA), zu der "Live-In"-Betreuerinnen befragt wurden, zeigt den Handlungsbedarf auf:
Auffällig sind die sehr langen Arbeitszeiten – pro Woche (häufig 7 Tage) aber auch pro Tag (mehr als 10 Stunden) – in einer Zeit, in der in Deutschland vermehrt über eine 4-Tage-Arbeitswoche diskutiert wird. Es ist kritisch zu fragen, inwiefern die im Arbeitszeitgesetz (ArbZG) definierten Vorgaben zur Arbeitszeit (tägliche Höchstarbeitszeit, Ruhezeiten, Aufzeichnung der Arbeitszeit etc.) auch bei häuslichen Betreuungskräften gewährleistet sind. Vermutlich arbeitet diese für den Arbeitsschutz insgesamt und die für den Vollzug der arbeitszeitrechtlichen Vorgaben zuständigen Institutionen wenig sichtbare Gruppe in einer davon abgekoppelten Arbeitszeitrealität.
"Hier besteht dringender Prüf- bzw. Handlungsbedarf zum Schutz der Betreuungskräfte", insistiert die BAUA.
Allerdings bleiben die Aufforderungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin bisher ‒ erwartungsgemäß ‒ ungehört.
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