25 Jahre nach Barlows "Unabhängigkeitsdeklaration des Cyberspace"

Seite 2: Von "Technologies of Freedom" bis zum "Darkening Web"

Barlow war nicht der erste, der über die "digitale Revolution" und ihre wirtschaftlichen, politischen und sozialen Auswirkungen reflektierte. Zbginiew Brezsinski (The Technotronic Era), Ithiel Sola de Pool (Technologies of Freedom) und Alvin Toffler (The Third Wave) hatten bereits seit den 1970er Jahren die Diskussion angeheizt. In den 1990er Jahren waren Manuel Castell (Network Society), Nicholas Negroponte (Being Digital), Francis Cairncross (Death of Distance) und Larry Lessing (Code and other Laws of Cyberspace) Augenöffner für die gesellschaftlichen Konsequenzen der vor der Tür stehenden globalen Digitalisierung.

Das 1999er "Cluetrain Manifesto" – publiziert von vier Silicon Valley Pionieren – erinnerte gar an die 95 Thesen von Martin Luther, der 500 Jahre zuvor die europäische Reformation in Gang gesetzt hatte. Wir lehnen Könige, Präsidenten und Wahlen ab. Wir glauben an "rough consens and running code", sagte David Clark bereits 1993.

Mit anderen Worten: Barlows 1996er Cyber-Unabhängigkeitserklärung war zu jener Zeit eigentlich gar nicht so neu. Trotzdem war seine Aussage eine besondere. Sein Verweis auf die US-amerikanische "Unabhängigkeitserklärung" von 1776 machte sie viel politischer. Barlow wusste, wie man Worte benutzt und mit Menschen spricht. Er schrieb Songs für die Rockband "Grateful Dead".

Barlow's Vision hat viele inspiriert. Ich selbst erinnere mich an eine Diskussion in Harvard, bei der Charles Nesson die Vorstellungskraft seines Publikums mobilisierte, sich an den historischen Moment in der "Hall of Independence" von Philadelphia zu erinnern, als 1776 die US-Verfassung ausgearbeitet und die Institutionen der US-Demokratie entworfen wurden. "Wir müssen jetzt die demokratischen Institutionen für ein digitales 21. Jahrhundert aufbauen", sagte er.

Es war die Zeit, als Icann als das Pilotprojekt für "Cyberdemokratie" galt und "globale Wahlen" für sein Direktorium vorbereitete. "Governance without Governments". Das war neu. Entscheidungen bei Icann werden von den unmittelbar "Betroffenen und Beteiligten", den Anbietern und Nutzern der Dienste getroffen. Regierungen sitzen bei Icann in einem, beratenden Ausschuss, dem "Governmental Advisory Committee" (Gac). Und ein "Gac-Advice" ist für das Icann Direktorium nicht verbindlich.

Barlow argumentierte in seiner Erklärung:

Wir haben keine gewählte Regierung und werden wahrscheinlich auch keine haben. Deshalb spreche ich Sie mit keiner größeren Autorität an als der, mit der die Freiheit selbst immer spricht. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir aufbauen, für natürlich unabhängig von den Tyranneien, die Sie uns aufzwingen wollen. Sie haben weder ein moralisches Recht, uns zu regieren, noch besitzen Sie Durchsetzungsmethoden, die wir wirklich befürchten müssen. Regierungen leiten ihre gerechten Befugnisse aus der Zustimmung der Regierten ab. Sie haben unsere weder angefordert noch erhalten. Wir haben Sie nicht eingeladen. Sie kennen uns nicht, noch kennen Sie unsere Welt. Der Cyberspace liegt nicht innerhalb Ihrer Grenzen. Wir werden eine Zivilisation des Geistes im Cyberspace schaffen. Möge es humaner und fairer sein als die Welt, die Ihre Regierungen zuvor geschaffen haben.

Es dauerte jedoch keine fünf Jahre und die von den Schweizer Bergen verkündeten Visionen landeten in den Tälern der Realitäten. Im Jahr 2001 platzte die "Doc-Com-Blase" und der 11. September verwandelte die mehr theoretische Debatte um "Cyberdemokratie" in eine sehr realpolitische Diskussion über "Cybersicherheit".

Innerhalb von zehn Jahren stieg die Zahl der Internetnutzer von einer Million auf eine Milliarde. Die grenzenlosen Möglichkeiten der vernetzten Welt wurden nicht mehr nur von den "Good Guys" genutzt. Das Internet bot die gleichen Freiheiten auch für Kriminelle, Vandalen, Hassprediger, Pädophile, Terroristen, Geldwäscher und andere "Bad Guys".

Die neuen Buchpublikationen hatten eher pessimistische Titel: "Die Zukunft des Internets und wie man es aufhält" (Jonathan Zittrain) oder "The Darkening Web" (Alexander Klimburg). Jeff Moss, der Gründer von Black Hat, argumentierte einmal: "Wir haben Innovationen geschaffen, um die Regierungen fernzuhalten. Mit den neuen Anwendungen kam viel Geld herein. Großes Geld zog die Kriminellen an. Und bei Kriminellen im Cyberspace ist es nur natürlich, dass die Regierungen zurückgekommen sind. "

Rückblickende Bewertung auf Barlows "Unabhängigkeitserklärung"

Hatte Barlow unrecht? Ja und nein. Denn selbst wenn Regierungen heute "zurück" sind, sie sind es auf andere Weise. Die Welt ist heute tatsächlich eine Cyberwelt. Die Wirtschaft ist eine digitale Wirtschaft. Die neue Komplexität des globalen Internet Governance-Ökosystems kann nicht mehr auf herkömmliche Weise verwaltet werden.

2005 – auf dem Weltgipfel der Vereinten Nationen zur Informationsgesellschaft (WSIS) – akzeptierten die Staatsoberhäupter von 193 UN-Mitgliedstaaten in der "Tunis Agenda", dass für die Steuerung des Internets alle Beteiligten, einschließlich des Privatsektors, der technischen Gemeinschaft und der Zivilgesellschaft, einbezogen werden müssen. Das sogenannte Multistakeholder-Modell wurde zur Blaupause für die globale Internet-Governance.

Auch wenn das Multistakeholder-Modell noch viele konzeptionelle Schwächen hat und immer wieder herausgefordert wird, gibt es praktisch dazu keine Alternative. Regierungen allein werden keine Lösungen für die Probleme des digitalen Zeitalters finden können. Das von UN-Generalsekretär Antonio Guterres eingesetzte "High Level Panel on Digital Cooperation" titelte seinen 2018er Abschlussbericht mit einem indirekten Bezug zu Barlow's Cyberunabhängigkeitserklärung "Das Zeitalter der Cyberinterdependenz" (The Age of Cyberinterdependence).

Insofern ist die "Rückkehr der Regierung" in den Cyberspace mehr als das bloße Zurückschwingen eines Pendels. Es geht jetzt nicht mehr um "Regierung oder Community", es geht um "Regierung und Community". Es geht um neue innovative und erweiterte Politikmodelle, um die Entwicklung innovativer Mischformen einer sinnvollen Kombination von Elementen der "repräsentativen Demokratie" und einer "partizipativen Demokratie".

Vertikale Hierarchien müssen zu horizontalen Netzwerken werden bei denen, je nach Sachverhalt Prozesse mal "Bottom Up" und mal "Top Down" gemanagt werden. Stakeholder müssen sich auf gleicher Augenhöhe begegnen und ihre sich gegenseitig ergänzenden Rollen spielen. Keiner kann das System allein managen. Regierungen nicht. Unternehmen aber auch nicht. Die Grundphilosophie des Multistakeholder-Modelles ist die, das das Internet von Anfang an hatte: Teilhabe (Sharing), und zwar auch bei der Entwicklung von Politiken und deren Durchsetzung.

Es ist ein großes Problem und es geht um mehr als Tablets, Smartphones und 5G. Mit der digitalen Revolution bewegt sich die Menschheit auf eine neue Ebene. Noch weiß man eigentlich nicht, wie diese grenzenlose digitale Cyberwelt funktioniert, wie sie gemanagt und reguliert werden soll. Die Noten für diese Zukunftsmusik müssen erst noch geschrieben werden. Die 2020er Jahre haben ja aber auch gerade erst begonnen.

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