25 Jahre nach Barlows "Unabhängigkeitsdeklaration des Cyberspace"
Seite 3: Lehren aus der industriellen Revolution?
- 25 Jahre nach Barlows "Unabhängigkeitsdeklaration des Cyberspace"
- Von "Technologies of Freedom" bis zum "Darkening Web"
- Lehren aus der industriellen Revolution?
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Die digitale Revolution wird heute oft als "4. Industrielle Revolution" bezeichnet. Natürlich gab es eruptiven Phasen, die Wirtschaft und Gesellschaft rockten, schon früher. Einiges kann man z.B. von den Diskussionen lernen, die aufpoppten, als sich die Welle der "1. Industrielle Revolution" ausbreitete.
Das Industriezeitalter nahm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Fahrt auf. Als die Begleiterscheinungen für das tägliche Leben sichtbarer wurden, rüttelte ein 30-jähriger Deutscher die Welt auf, indem er argumentierte, dass diese industrielle Revolution mehr sei als Dampfschiffe, Eisenbahnen, Elektrizität, Telegraph und Textilfabriken. Er prognostizierte eine "New Economy" und eine "New Society" und entwickelte einen Plan, wie diese zu bauen sei. 1848 nannte Karl Marx seine Deklaration das "Kommunistische Manifest".
Aber auch Marx wurde bald mit den Realitäten seiner Zeit konfrontiert. In einer Rede in London am 14. April 1856 erkannte er die tiefen Widersprüche: "In unseren Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen. Wir sehen, dass die Maschinerie, die mit der wundervollen Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verringern und fruchtbarer zu machen, sie verkümmern lässt und bis zur Erschöpfung auszehrt.
Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not. Die Siege der Wissenschaft scheinen erkauft durch Verlust an Charakter. In dem Maße, wie die Menschheit die Natur bezwingt, scheint der Mensch durch andere Menschen oder durch seine eigne Niedertracht unterjocht zu werden. Selbst das reine Licht der Wissenschaft scheint nur auf dem dunklen Hintergrund der Unwissenheit leuchten zu können.
All unser Erfinden und unser ganzer Fortschritt scheinen darauf hinauszulaufen, dass sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen.
Dieser Antagonismus zwischen moderner Industrie und Wissenschaft auf der einen Seite und modernem Elend und Verfall auf der anderen Seite, dieser Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Beziehungen unserer Epoche ist eine handgreifliche, überwältigende und unbestreitbare Tatsache."
Wir wissen heute, dass die Geschichte nicht so verlaufen ist, wie sie sich Karl Marx vorgestellt hat. Seine Erkenntnisse waren wohl begründet. Der Plan hat nicht funktioniert. 100 Jahre später war die Welt aber dennoch "voll industrialisiert". Und die Königreiche, die die Welt beherrschten als Marx noch ein junger Journalist war, waren verschwunden. Stattdessen existierten nun Republiken, wenngleich diese sehr unterschiedlich waren. Auf der einen Seite Demokratien, pluralistische Marktwirtschaften, die sich an Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit orientierten.
Auf der anderen Seite Autokratien, staatswirtschaftliche Ein-Parteien-Systeme mit einem "General" an der Spitze, der dem Rest des Landes diktierte, was zu tun ist. Schlimmer noch, nach zwei verheerenden Weltkriegen begann 1948 ein kalter Krieg zwischen den beiden Blöcken. Und es dauerte fast ein halbes Jahrhundert, bis die Staatsoberhäupter der "zwei Blöcke" die Demokratie zum Sieger des Industriezeitalters erklärten.
Ihre Vision in der "Charta von Paris" (1991) lautet wie folgt:
Unsere ist eine Zeit, um die Hoffnungen und Erwartungen zu erfüllen, die unsere Völker seit Jahrzehnten hegen: unerschütterliches Engagement für Demokratie auf der Grundlage von Menschenrechten und Grundfreiheiten; Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit; und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder. Wir verpflichten uns, die Demokratie als einziges Regierungssystem unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken. Die demokratische Regierung basiert auf dem Willen des Volkes, der regelmäßig durch freie und faire Wahlen zum Ausdruck gebracht wird. Die Demokratie hat als Grundlage den Respekt vor der menschlichen Person und der Rechtsstaatlichkeit. Demokratie ist der beste Schutz der Meinungsfreiheit, der Toleranz aller Gesellschaftsgruppen und der Chancengleichheit für jeden Menschen. Demokratie mit ihrem repräsentativen und pluralistischen Charakter beinhaltet die Rechenschaftspflicht gegenüber den Wählern und die Verpflichtung der Behörden, die unparteiisch geltenden Gesetze und Gerechtigkeiten einzuhalten. Niemand wird über dem Gesetz stehen.
Ist das nicht eine schöne Vision: Frieden und Verständnis, Wohlstand, wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit für alle von Vancouver bis Wladiwostok? Diese "Vision" kam von Regierungen, nicht von Träumern wie John Perry Barlow. Aber auch diese Vision überlebte den Stresstest der Realität nicht.
Warten auf die Enkelkinder?
1991, als die "Charta von Paris" unterzeichnet und das Industriezeitalter beendet wurde, öffnete das World Wide Web die Tür zum "digitalen Zeitalter". 30 Jahre später sind die "Väter des Internets" nun Großväter. Ihre Kinder haben den Cyberspace kommerzialisiert, politisiert und militarisiert.
Die Visionen von gestern sind hinterm Horizont verschwunden. Heutige Realität ist, dass all die großen Errungenschaften, die neuen Anwendungen und digitalen Dienste, die unser Leben freier, einfacher, reicher und komfortabler gemacht haben, eine dunkle Kehrseite haben. Soziale Netzwerke laufen Gefahr, Zensoren zu werden. Suchmaschinen riskieren, zu globalen Wachhunden zu mutieren.
Wir sind umgeben von Massenüberwachung, biometrischen Kontrollsystemen und einem Sumpf gefälschter Nachrichten und Hassreden. Neue profitable Anwendungen zerstören traditionelle Unternehmen und es ist unklar, ob diese Erfindungen eine "konstruktive Zerstörung" (Schumpeter) sind oder ob sie den Weg bahnen in eine sich immer tiefer spaltende Gesellschaft.
Wir müssen uns rumschlagen mit Cyberkriminalität, Fehlinformationen, Marktbeherrschung, digitalen Handelskriegen und tödlichen autonomen Waffensystemen. Es scheint wie 1856 zu sein, als "jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger" ging.
Werden Plattformregulierung, digitale Steuern, Datenschutz, Normen des staatlichen Verhaltens im Cyberspace und Regeln für einen ethischen Ansatz für künstliche Intelligenz unserer Zukunft besser machen? Was werden die "Enkel des Internet" mit dieser neuen Generation von Problemen anfangen, die in John Perry Barlow's Unabhängigkeitserklärung gar nicht vorkommen?
Geschichte wiederholt sich nicht. Niemand weiß, wie unsere Welt in 25 oder gar 100 Jahren aussehen wird. Man kann sicher davon ausgehen, dass die Welt dann "vollständig digitalisiert" sein wird. Aber wird diese Welt eine "Zivilisation des Geistes" sein? Wird jeder Einzelne einen erschwinglichen Zugang zum Internet haben?Können wir den Erfolg des "grünen und digitalen Deals" genießen? Hat der digitale Fortschritt unsere Umwelt, Bildung und Gesundheitsversorgung verbessert? Wird es für alle "menschenwürdige Arbeit" geben? Wird die Welt "menschlicher und fairer" sein? Oder haben wir einen digitalen "Kalten Krieg" zwischen Cyberdemokratien und Cyberautokratien mit Internet-basierten Drohnen und Killerrobotern?
Visionen und Träume für die Zukunft zu haben, ist immer eine gute Sache. Es ist notwendig, Menschen zu inspirieren, ihre Ansichten zu erweitern und die Fantasie anzuregen. Man sollte sich aber auch bewusst sein, dass die Realität einen anderen Weg einschlägt. Das Heute ist Ergebnis von gestern; das Morgen Ergebnis von heute.
Dieser simple Sinnspruch ist eine alte buddhistische Weisheit. Heinrich Heine hat es - etwas poetischer - mal so formuliert: "Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will". Und Winston Churchill meinte "Eine Nation, die ihre Vergangenheit vergisst, hat keine Zukunft". Insofern würde ich den Professoren von morgen empfehlen, Barlows "Unabhängigkeitserklärung im Cyberspace" auf die Leseliste der Studenten von übermorgen zu setzen.
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