9/11 für Bangladesch

Seite 3: Nicht die "Unfälle" in den Fabriken sind die wirkliche Katastrophe, sondern die Arbeitswelt an sich

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mit der zumindest halbwegs menschlichen Arbeitswelt im Westen hat der Alltag der Bangladeschis in Zukunft aber auch weiter nichts gemeinsam. Die Liste derjenigen immer noch fehlenden Standards, für die der Internationale Gewerkschaftsbund eigentlich hätte eintreten müssen, ist lang: Arbeitszeitrichtlinien, Pausenvereinbarungen, verbindlicher Schutz der körperlichen Unversehrtheit, garantierte Toilettengänge, Überstundenregelung, Urlaubsanspruch, Krankengeld, Rechtsschutz, soziale Absicherung, Betriebsräte, angemessene Bezahlung – um nur die wichtigsten zu nennen.

Zwar ist Bangladesch eines der ärmsten Länder der Welt, was eine allgemeine soziale Absicherung – und damit eine auch eine bürgerliche Vertragsverhandlungsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt – oberflächlich betrachtet erschwert, aber gerade deshalb und mit dem Wissen um die Milliardengewinne, die westliche Konzerne in Bangladesch und Asien mit der Kleidungsproduktion erzielen, sollten diese Forderungen unumgängliche Mindestforderungen sein.

Nicht zufällig ist wohl Bangladesch als Armenhaus der Welt aber mit die größte Produktionsstätte für Textilien – das neue Abkommen, das angeblich für moralisch und ethisch saubere Kleidung steht, wird nichts an der menschenverachtenden und barbarischen Ausbeutung der Arbeitskraft der Menschen dort ändern, die jeden Tag und jede Nacht stattfindet und nicht nur, wenn sie in westlichen Medien präsent ist. Nicht die "Unfälle" in den Fabriken sind die wirkliche Katastrophe, sondern die Arbeitswelt an sich in Bangladesch ist die Katastrophe in Permanenz – und eine abermillionenfache Menschenrechtsverletzung, die von der westlichen Welt toleriert und gewollt wird, um weiter "zehn Teile für 80 Euro" kaufen zu können, auch wenn die normalverdiende Mittelschicht etwa in Deutschland diese Sparsamkeit wohl kaum nötig hat.

Die kapitalistische Produktion aber sucht sich immer ihre billigsten Opfer – vor zehn Jahren noch war China Hauptproduktionsort preiswerter Kleidung für den Westen. Nachdem es zu massiven Arbeitskämpfen im ganzen Land kam, ordnete die chinesische Regierung bessere Arbeitsbedingungen an, was die Produktionskosten für westliche Unternehmen erhöhte. Seitdem entstehen in Bangladesch immer neue Textilfabriken, rund zehntausend gibt es schon, zumeist in stickigen Hochhäusern im Großraum Dhaka untergebracht.

Die archaisch geprägte Klassengesellschaft in Bangladesch wird das neue Abkommen keineswegs auflösen helfen – im Gegenteil: es könnte gar dazu führen, dass der permanente soziale Konflikt (untertrieben ausgedrückt, wenn man sich den finstersten Frühkapitalismus dort betrachtet) im Land unter dem generösen Verweis auf angebliche Mindeststandards im größten Arbeitssektor dort von den Eliten unter den Teppich gekehrt wird. Das soziale und nachhaltige Image, dass sich vor allem deutsche Unternehmen und die deutsche Regierungspolitik gerne geben, produziert einen Mehrwert wohl leider einzig für die Marketing-Maschinerie der deutschen Wirtschaft im In- und Ausland.

Über "good gouvernance" referiert etwa Außenminister Westerwelle gerne, die schwächsten Glieder in der globalisierten Wirtschaft aber möchte man nicht in demokratische Strukturen einbinden: So blieb Michael Sommer zur Vorstellung des Abkommens nur ein schüchterner Appell an die Regierung in Bangladesch übrig, sie möge doch endlich Gewerkschaften für alle Beschäftigten offiziell zulassen und anerkennen. Die deutsche Gesellschaft macht sich in ihrer täglichen Konsumpolitik mitschuldig an der Stagnation der gesellschaftlichen Entwicklung in Bangladesch. Denn trotz der Armut gehört es kulturell zu den tolerantesten und aufgeschlossensten muslimischen Ländern in der Welt und könnte – wenn es der wirtschaftlich dominante Westen, für den das Land fast gänzlich und existenznotwendig produziert, es denn wirklich wollte (alleine 80% des Exportes machen Textilien aus) – ein Paradebeispiel für die Entwicklung gesellschaftlichen Potentials sein.

Bis dieser wahrlich konziliante Zustand eintritt, wird die globale Marktwirtschaft aber weiterhin ganz einfach zu verstehen sein, trotz oder gerade wegen des Abkommens Initiative Saubere Kleidung: Die paar Euro, die der deutsche Käufer bei kik spart, sind die paar Euro Lohn, die der Näherin in Bangladesch geraubt werden für ihre Hände Arbeit.