96 Osteuropa-Experten fordern: "Liefert schwere Waffen in die Ukraine!"

In einem Offenen Brief antworten Osteuropahistoriker und Spezialisten für die Ukraine und Russland auf den Aufruf "Waffenstillstand jetzt!". Sie werfen dem vorgängigen Appell mangelnde Expertise und ein "Klein Beigeben" vor.

Mit einem Offenen Brief, reagieren "96 Osteuropa-Experten weltweit" auf den Aufruf "Waffenstillstand jetzt!", der Ende Juni in der Zeit erschien.

Da wir an dieser Stelle bereits mehrere Offene Briefe und Appelle zum Krieg in der Ukraine veröffentlicht haben, dokumentieren wir auch diese Replik, veröffentlicht "exklusiv auf Focus Online", in Auszügen.

Vorwurf der mangelnden Expertise: "Kein Zufall"

Die Unterzeichner, darunter der in der großen Öffentlichkeit bekannte Historiker Timothy D. Snyder sowie bekannte Persönlichkeiten aus der deutschen Politik wie Rebecca Harms und Marieluise Beck von den Grünen, halten der "Gruppe bekannter deutscher ProfessorInnen, Kulturschaffenden, PublizistInnen und ein(em) Exdiplomaten", die in ihrem Appell Ende Juni zum "Waffenstillstand jetzt!" aufgerufen haben, vor, dass sie "einen Friedensschluss mit Moskau für unproblematisch" halten.

Solche Denkfiguren seien in Deutschland nicht ungewöhnlich. Dies beruhe auf mangelnder Expertise, so ein Leitmotiv der Replik.

Das Pikante an dem kollektiven Aufruf zu Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland ist: Kein/e Unterzeichende/r war bislang durch tiefergehende Beschäftigung mit den russisch-ukrainischen Beziehungen aufgefallen. Es steht zu vermuten, dass keine/r der UnterzeichnerInnen Ukrainisch versteht. Man fragt sich, wie viele der Aufrufenden in welchem Maße des Russischen mächtig sind. Damit wiederholt sich das Muster des berühmt gewordenen "Offenen Briefs an Kanzler Scholz" von 28 mit Osteuropa wenig vertrauten Intellektuellen und KünstlerInnen in der Zeitschrift "EMMA" vom 29. April 2022 .

Offener Brief, Schwere Waffen jetzt!

Zwar sei es zu begrüßen, wenn sich Publizist:innen und Wissenschaftler:innen außerhalb der Osteuropakunde zur Region öffentlich zu Wort melden. Aber da es um einen Krieg zwischen der Ukraine und Russland gehe, verwundere "allerdings die vollständige Abwesenheit von ForscherInnen zur ukrainischen und/oder russischen Politik, Armee, Geschichte und Kultur".

Sollten nicht besser "Osteuropahistoriker:innen, Russlandforscher:innen oder Ukrainist:innen, "jene SpezialistInnen, die nach jahrzehntelanger Arbeit zur Ukraine oder/und Russland mit einem oder beiden der Länder vertraut sind, dominierende VerfasserInnen eines solchen Friedensappells sein?", so die dominierende Eröffnungsfrage der Replik.

"Müssten nicht gerade deutsche Intellektuelle mit dutzenden wenn nicht hunderten Freunden, KollegInnen und Bekannten (ja teils Verwandten) in der Zielregion in großer Zahl diesen Aufruf unterstützen? Weshalb kam der Brief nicht aus einem renommierten deutschen Osteuropainstitut anstatt von einer Gruppe scheinbar zufällig versammelter Intellektueller?"

Die Unterrepräsentanz von Expertise zum Russland-Ukraine-Krieg sei "kein Zufall", heißt es im Offenen Brief.

Die Aufrufenden würden ein unvollständiges Bild vom Verlauf der ersten vier Kriegsmonate zeichnen, indem sie beispielsweise geschrieben haben, dass sich Ukraine "unter anderem dank massiver Wirtschaftssanktionen und militärischer Unterstützungsleistungen aus Europa und den USA bislang gegen den brutalen russischen Angriffskrieg verteidigen" habe können.

Diese Faktoren waren jedoch bis Juni 2022 von untergeordneter Bedeutung. Der Großteil der bis dahin von Kiew zur Landesverteidigung verwendeten schweren Waffen war sowjetischer oder ukrainischer Bauart. Die tatsächlich massiven Wirtschaftssanktionen gegen Russland haben bislang nur einen geringen Teil ihrer Wirkung entfaltet. Sie hatten bis zur Veröffentlichung des Aufrufs noch keinen nennenswerten Effekt auf Moskaus Kriegsführung ausgeübt.

Offener Brief, Schwere Waffen jetzt!

Vorwurf des eingeschränkten Lösungsszenarios

Vorgebracht wird in dem Gegenaufruf, dass sich der Appell "Waffenstillstand jetzt!", hauptsächlich auf ein auch ansonsten weitverbreitetes Lösungsszenario konzentriere. Diese sehe so aus:

"Der Westen soll die inzwischen weitgehend aufgebrauchten eigenproduzierten schweren Waffen der Ukraine, wenn überhaupt, nur beschränkt durch westliches Gerät ersetzen. Eine Restriktion militärtechnischer Hilfe für die Ukraine macht den Weg zu produktiven Verhandlungen mit Russland frei. Die schleichende Entwaffnung der UkrainerInnen führt schließlich zu Frieden."

In der Replik heißt es dazu:

Nur wenige OsteuropaexpertInnen würden sich bereit erklären, einen solchen Ansatz zur Einhegung des russischen Imperialismus zu unterstützen. Wer immer sich intensiver mit dem postsowjetischen Raum der letzten 30 Jahre beschäftigt hat, weiß wie schwierig der Umgang mit den hegemonialen Ansprüchen Moskaus ist. Kaum ein/e Forscher/in, Journalist/in oder Aktivist/in, die/der das Verhalten des Kremls in Moldau, im Kaukasus und in der Ukraine in den letzten Jahrzehnten untersucht hat, würde solch eine Vorgehensweise unterstützen.

In Verkennung der Natur von Putins internem Regime und außenpolitischer Doktrin schlägt der Aufruf, wie auch andere derartige Wortmeldungen, das Gegenteil der für eine Abschreckung des Kremls nötigen Maßnahmen vor. Die Unterzeichneten sehen die Befähigung der Ukraine zur dauerhaften Selbstverteidigung offenbar nicht als Hauptaufgabe an.

Stattdessen schlägt die Gruppe vor, jene Zurückhaltung bei der Eindämmung des russischen Expansionismus fortzusetzen, die der Westen seit 1991 schon mehrfach in Moldau, Georgien, der Ukraine und anderswo versucht hat. Die Briefeschreiber haben geringes Interesse an postsowjetischer Zeitgeschichte; sie offerieren daher die Fortführung einer westlichen Russlandpolitik, die uns in die heutige missliche Lage gebracht hat.

Offener Brief, Schwere Waffen jetzt!

Die "ethische Ambivalenz"

Den Unterzeichnern des Appells für einen sofortigen Waffenstillstand wird vorgehalten, dass sie der "ethischen Ambivalenz ihres Unterfangens" nicht bewusst seien. Sie wüssten "vermutlich wenig vom seit Jahren in Donezk operierenden russischen Foltergefängnis Isoljazija". Dabei gebe es entsprechende Berichte der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen oder das autobiographische Buch "Heller Weg" (Stuttgart, 2021) des ehemaligen "Isoljazija"-Häftlings Stanislaw Asejew.

Beunruhigend ist, dass die russische massenhafte Enteignung, Deportation, Verstümmelung und Ermordung der Zivilbevölkerung in den von Moskau 2022 neu besetzten Gebieten der Ukraine offenbar für die BriefeschreiberInnen sekundär ist. Der Plan der Prominenten läuft darauf hinaus, dass Russland diese Praxis in weiten Teilen der Ukraine auf Dauer fortsetzen kann. Die womöglich völkermörderischen Implikationen der stillschweigend eingeräumten ukrainischen Gebietsabtretungen an Russland bleiben im Nebel.

Offener Brief, Schwere Waffen jetzt!

Subsummiert wird der Aufruf zum Waffenstillstand in der Replik der 96 Expert:innen mit der Formel "Klein Beigeben – zum soundsovielten Mal."

Was vor dem 24. Februar 2022 wiederholt nicht funktioniert hat, soll nunmehr die Lösung sein. Dieser paradoxen These wird durch die mediale Präsenz und aufgelisteten Professorentitel der UnterzeichnerInnen Plausibilität verliehen.

Offener Brief, Schwere Waffen jetzt!