99 Posse zu G20: "Jeder definiert Gewalt anders"
- 99 Posse zu G20: "Jeder definiert Gewalt anders"
- "Es wird keinen Frieden geben, nicht den kleinsten. Für uns zählt Ghandi nichts"
- "Unser Protest heißt: Den Willen der Unzufriedenen in Bilder zu verwandeln!"
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In einem Exklusiv-Interview äußern sich erstmals gegenüber deutschen Medien nicht anonym Wortführer der Autonomen aus Südeuropa. "Brigaden" aus Kampanien sollen hauptverantwortlich für die G20-Ereignisse von Hamburg gewesen sein
Die 99 Posse aus Neapel gilt als das Sprachrohr des Schwarzen Blocks in Italien. Die Gruppe ist als Musik-Band in Italien und Spanien beliebt bis in linksbürgerliche Kreise, mit ihren Releases regelmäßig in den Charts, tritt in TV-Shows der staatlichen RAI auf und war nominiert für den MTV Europe Music Award.
Musikalisch repräsentiert die 99 Posse seit gut 20 Jahren das Genre "Popmusik der Autonomen", das sie begründeten - eine italienische Eigenheit und massenpopulär als dort breit akzeptierte militante Protestartikulation. Im Gegensatz etwa zur vergeistigten "Hamburger Schule" (z.B. Tocotronic) changiert diese Szene zwischen Rap, Punk, Hardcore, Electro, Dub, Italo-Pop und Raggamuffin. Seit den 1990ern entwickelte sich im Raum Neapel die größte HipHop-Szene außerhalb der USA heraus, deren Vielfalt von Pro-Camorra-Titeln über Glam-R'n'B bis zu Polit-Raggamuffin reicht und die auch in Roberto Savianos Sky-TV-Serie "Gomorra" zum Primetime-Hit wurde.
Aus diesem Genre entstand landesweit das Movimento delle posse, quasi die musikalisch-ästhetische Jugendkultur des in ganz Italien seit den 1980ern politisch sehr einflussreichen und nun staatlich finanzierten Netzwerks der Centri Sociali ("C.S."), das heute tausende Jugendklubs, Bauernhöfe, Seniorenheime, Restaurants, Diskotheken, Rechtsberatungen, Galerien, Gärten, Sportvereine etc. betreibt. National-Ikone Adriano Celentano ist ihr Unterstützer, die C.S. gründeten in Palermo die Anti-Mafia-Initiative "Addio Pizzo!" ("Verpiß Dich, Schutzgeld!").
Dass besonders in Süditalien politische Militanz in weiten Kreisen der Bevölkerung Akzeptanz findet - wie die 99 Posse im folgenden Gespräch zum Ausdruck bringt -, verdankt sich wohl den besonderen italienischen Verhältnissen im 20. Jahrhundert, als auch der sehr besonderen langen Geschichte Neapels, die wohl die uneuropäischste Stadt Europas ist, was man dort an jeder Ecke spürt. In dramatischer Erinnerung sind den Ältesten vor allem die "Quattro giornate di Napule", in denen sich die Bevölkerung todesmutig als einzige Großstadt mit eigener Waffengewalt von der deutschen Wehrmacht befreite.
Soziohistorisch hat die politische Kampfform des Schwarzen Blocks wohl große Bedeutung bei der Erkämpfung der heutigen Arbeitnehmerrechte und des westlichen Sozialstaats liberal-demokratischer Prägung. Autonome Gruppen formierten sich erstmals vor rund 100 Jahren während der ersten großen Arbeiterbewegungen der Moderne. In Abgrenzung zur strikten frühgewerkschaftlichen Orientierung an der russischen KP Lenins vor allem entstanden in Südeuropa, aber auch in italienisch, irisch und jüdisch geprägten US-Städten wie NYC, SF oder Chicago (Sacco/Vanzetti) sich als freigeistig und teils anarchistisch verstehende Basisgewerkschaften als sogenannte "Syndikate" mit insgesamt Millionen von Mitgliedern.
Die Taktik des Schwarzen Blocks wandten erstmals sizilianische Kleinbauern während erster großer Anti-Mafia-Proteste in den 1920ern an und wurde später z.B. von der bis heute mächtigen CGT übernommen, welche aus dem Anarcho-FN-Syndikat entstand und Leon Blum 1936 zum ersten sozialistischen und jüdischen Premier Frankreichs machte. Im Spanischen Bürgerkrieg stellten diese "libertären Brigaden" zehntausende Kämpfer - ganze staatliche Museen in Italien oder Mexico sind dem revolutionärem "A"-Syndikalismus gewidmet. Die Nachfolgegruppierungen stellen bis heute einen wichtigen politischen Faktor z.B. in Frankreich dar mit dem drittplazierten Kandidaten (19%) der Präsidentschaftswahlen, Melenchon.
In der popkulturellen Ästhetisierung von Negation und Radikalopposition erlebte der Schwarze Block eine Wiedererstarkung seit den 1960ern durch die US-Black Panther, die Fiat-Streiks, No Future, den Kreuzberger 1.Mai 1987 und die sog. "neuen sozialen Bewegungen". Seine maskiert-militante Stilistik wurde auch in Hunderten von Mainstream-Musik-Videos "verewigt" von Rage against the Machine, Niggas with Attitude, Michael Jackson und Manu Chao bis hin zu Nicole-Scherzinger. Vor allem im Mezzogiorno, aber auch in Süd-Spanien oder Zentral-Griechenland sind Autonome Gruppen bis heute Hauptträger der Sozialversorgung, z.B. durch organisierte Essensverteilung an finanziell Diskriminierte.
Politische Bedeutung aufgrund seiner zahlenmäßigen Stärke hat der Black bloc heute neben Italien vor allem in Regionen mit extrem stark politisierten Jugendkulturen: Brasilien, Mexico, Argentinien, Chile, Venezuela, Griechenland, Andalusien, im Baskenland, in ehemals kommunistisch dominierten Provinzen Indonesiens sowie in traditionell linken US-Städten mit "black block style tactics" (Washington Post) wie Portland und Oakland/CA. Ehemals starke Gruppen in Schweden sind aufgrund ihrer zunehmenden völkischen Agitation heute kaum noch von Neo-Nazis zu unterscheiden. In Deutschland ging das Bundesamt für Verfassungsschutz in den letzten Jahren von rd. 8000 gewaltbereiten Linksextremisten aus.
"Va bene, man hält uns für unsichtbare, vermummte Zombies"
Nicht nur in Deutschland herrschte großes Entsetzen nach G20. Sogar das größte US-Blatt USAToday fragte sich: "What is a Black Bloc?" Wie würden Sie das einem Normalbürger erklären?
99 Posse: Der Schwarze Block ist ein europaweites bis internationales Netzwerk - ein Zusammenhang sehr unterschiedlicher Individuen, die alle miteinander vernetzt sind, trotz kleinerer politischer Unterschiede. In Italien, aber auch anderswo, entstand er in den 1980ern vor allem als Reaktion auf Repressionsversuche der Sicherheitsbehörden gegenüber linker Opposition generell. Wir als "Blocco nero" entschieden uns als Reaktion auf diese politischen Zuspitzungen in der Gesellschaft damals, in den 1980er und 1990er Jahren, auch und vor allem physischen Widerstand zu leisten.
Widerstand? Sie meinen Gewalt?
99 Posse: Naja, jeder definiert Gewalt anders ... Die Vermummung legen wir an, um "Azioni" durchführen zu können, ganz einfach. Aktionen, die viel, sehr viel Aufmerksamkeit erzeugen als Ergänzung zu linken Großdemonstrationen und anderen Ereignissen. Aktionen in Serie! Warum wir uns vermummen? Um nicht als Person aufzufallen während dieser Aktionen.
Aktionen? Aber in Hamburg hatten viele nur Angst vor dem schwarzen Block?
99 Posse: Okay, nicht jeder mag den Schwarzen Block - aber eines muss jeder einsehen: Es gibt eine globale Krise, eine Verrohung durch Verarmung. Wir müssen darauf reagieren. Leute wie wir müssen zusammenstehen, um Druck auszuüben.
Wir als 99 Posse sind entstanden aus dem schwarzen Block der späten 1990er und 2000er, unsere centri sociali wie das C.S.O.A. Officina 99 sind unsere Kommunikationszentren. Wir haben das erkämpft in all den Jahren diese Strukturen der C.S. Wir haben sehr gute Verbindungen zur Stadtverwaltung von Napule, danke dafür, Leute! Sie kennen unsere Bedeutung, unsere Kraft! Es gibt große Sympathien für uns in linken Stadtverwaltungen wie hier - das gibt uns ja erst die Möglichkeit, uns auszudrücken, zu versammeln, zu vernetzen und europaweit zu agieren …
Nun ja, Napule ist bekanntlich eine andere Welt, nicht nur im Spanischen Viertel und in Giuliano ... Aber warum Hamburg?
99 Posse: Genua 2001 war eine große Sache für uns, der Startpunkt - wir haben aus diesem Erfolg gelernt und uns weiterentwickelt bis G20. Es ist eine sehr erfolgreiche Strategie, die sich bis Hamburg entwickelt hat in Bezug auf unsere Militanz des Blocco Nero. Va bene, man hält uns für unsichtbare, vermummte Zombies, va bene, sehr gut für den schwarzen Block!