99 Posse zu G20: "Jeder definiert Gewalt anders"

Seite 3: "Unser Protest heißt: Den Willen der Unzufriedenen in Bilder zu verwandeln!"

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Aber in Hamburg haben doch anscheinend auch unpolitische Gaffer mitgewirkt an der Gewalt?

99 Posse: Das, was an Aktionen ausgeführt wurde, war notwendig. Diese Art des militanten Kampfes ist ganz einfach notwendig als politische Einwirkung aller Wütenden. Wir setzen auf die Kraft aller Leute, die mittun an unseren Aktionen.

Ja, und das soll heißen: Jede Aktion ist politisch ... Ist das nicht zusammenhanglos?

99 Posse: Seht die Welt an: Eine Veränderung ist notwendig. Wenn das notwendig ist, sind auch unsere Aktionen in jeder Form notwendig. Unser Protest heißt: Den Willen der Leute, der Unzufriedenen, der Radikalopposition, der Widerständigen in Bilder zu verwandeln! Das ist der Kern: Solo la volontà forte del popolo può cambiare le cose. Quasi alla porte. Dieser Kampf steht nun "vor der Tür". Wir erhoffen uns viel, sehr viel von der nahen Zukunft ... Diese Protestformen der Azioni müssen wachsen.

Je stärker die soziale Ungleichheit zunimmt, desto mehr nimmt natürlich auch die Wut unpolitischer ragazzi zu ... Das ist nun mal der Mechanismus dieses Kapitalismus heute, der ja vor allem in Deutschland und Italien im Postfaschismus gründet.

Die Entwicklung des Widerstandes ist noch lange nicht vorbei mit dem Erfolg von Hamburg. Wir sind immer mehr geworden. Und wir werden noch viel mehr werden. Das war nur der Anfang.

"Ausbeutung ist doch auch Gewalt, oder nicht?"

Euer Kampf-Song "Antifa" ist heute die Hymne der italienischen Militanten und des Schwarzen Blocks in ganz Südeuropa. Was heißt denn Antifa für Euch?

99 Posse: Nun, in Italien wird der Faschismus von damals bis heute sträflich ignoriert, bis heute werden Faschisten gedeckt von Behörden. Es ist einfach ein Skandal!

Sie meinen offene Symbole der faschistischen Ära, die im Gegensatz zu Deutschland bis heute nicht verboten sind: z.B. die Mussolini-Statue vor dem Olympiastadion von Lazio Roma, den jeder in Italien für einen Nazi-Club hält, den Hitler-/Duxgruß des Lazio-Kapitäns Paolo di Canio nach jedem Tor oder die Neonazi-Mordserie von Firenze 2011!?

99 Posse: Ja, aber nicht nur das ... Wiederum: Antifa heißt: Aufmerksamkeit zu schaffen. Dinge sichtbar machen. Es geht nicht nur um kurzweilige Symbole, es geht darum, die dahinterstehenden, langfristigen Strukturen aufzudecken, zu zeigen, anzuklagen - in jeder Form!

Was denn sichtbar machen?

99 Posse: In Südeuropa gibt es immer noch einen alltäglichen und institutionellen Zusammenhang zwischen alten Strukturen der Faschisten, neuen Faschisten und der kapitalistisch-normalisierenden Realität im Alltag. Wir als handelnde Antifaschisten aber haben auch Zellen von Napoli bis Milano. Diesem Konglomerat der Mächtigen werden wir nicht weichen, in keiner Stadt!

Ist der militante Schwarze Block in Italien derart aktiver als hier?

99 Posse: Naja, die Geschichte ist einfach eine ganz andere. Die Bewegungen hier und dort haben sich unterschiedlich entwickelt, die Anknüpfungen sind andere, auch das diffus und undefinierbar Linke allgemein als alltägliche Haltung "ganz normaler" Leute - vor allem aus der sogenannten Unterschicht - gegen den Staat ist hier viel größer, eine Art Charakterhaltung der Skepsis, in Italien wird Militanz akzeptiert von vielen, auch von Nicht-Militanten, Nicht-Linksradikalen, als Weiterung des Überlebenskampfes der Partisanen der 1940er betrachtet.

Damals der Kampf gegen die Deutschen, nun der gegen die Armut. Gerechtigkeit heißt Abschaffung der Armut. Gerechtigkeit heißt soziale und finanzielle Gerechtigkeit. Umfassend und für alle. Ja, und solange das nicht erreicht ist, wird es eben keinen Frieden geben. Ausbeutung ist doch auch Gewalt, oder nicht? Unsere Gewalt richtet sich nur gegen diese Gewalt - als offensive Selbstverteidigung. Niemand sollte sich Gewalt durch Ausbeutung gefallen lassen! All das läßt die Szene in Italien natürlich viel stärker werden.

Aber Italien ist nicht gleich Europa!?

99 Posse: Ausbeutung erzeugt Wut erzeugt Gewalt, überall - es liegt an den Mächtigen und an den Menschen, diese völlig irre und zerstörerische Logik des Kapitalismus zu beenden, so wie auch der Faschismus in den 1940ern bewaffnet besiegt wurde. Es geht uns nicht um Lust an Gewalt, es geht um ihre Notwendigkeit. Wird die Ausbeutung beendet, so wird auch die Gewalt enden ...

Also Ihr in Deutschland seht her: Hamburg hat es gezeigt. Wir sind sehr, sehr viele in Südeuropa, aber nicht nur im Mezzogiorno, nicht nur in Italien, auch andere Autonome zeigten ja Präsenz!