Absage an Gewalt in Hamburg

Schon einen Tag nach dem gewaltsamen Angriff junger radikaler Muslime auf Kurden wurde ein runder Tisch einberufen - Sollte das PKK-Verbot aufgehoben werden?

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Am vergangenen Dienstagabend kam es im Hamburger Stadtteil St. Georg zu einer Straßenschlacht (Hamburg: Salafisten griffen kurdische Demonstranten an): radikal islamische Jugendliche griffen Kurdinnen und Kurden an, die von einer Solidaritätskundgebung mit der bedrohten syrisch-kurdischen Stadt Kobanê am Hauptbahnhof auf dem Weg zu einem Kulturverein am Steindamm waren. Der Konflikt weitete sich rasend schnell aus, noch bevor die Polizei eingreifen konnte, standen sich 400 Salafisten und 400 zu ihrer Verteidigung entschlossenen Kurdinnen und Kurden gegenüber. 24 Personen wurden dabei z. T. schwer verletzt.

Unterdessen ist klar, dass beide Seiten soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter zur Vorbereitung oder zur Bitte um Verstärkung nutzten. Nachdem der Konflikt mittels Polizeieinsatz beendet war, verabredeten sich noch in der Nacht kurdische und islamische Funktionsträger, Parlamentarier und Vertreter der Polizei zu einem runden Tisch für Mittwochnachmittag. Das Ergebnis ist eine klare Absage an Gewalt sowie die ungeklärte Frage, wieso so viele junge Männer in Hamburg und Umgebung bereit sind, sich radikal-islamischer Gruppierungen wie IS anzuschließen, und ganz offensichtlich ihre vermeintlichen Feinde mit Gewalt zu bekämpfen gewillt sind?

Inzwischen scheint klar zu sein, dass die Salafisten sich bereits am Dienstagmorgen verabredeten, die kurdische Demonstration anzugreifen. Diese Verabredungen liefen per Facebook und Twitter. Der kurdische Verein am Steindamm ist bekannt, und es war abzusehen, dass eine größere Gruppe Kurdinnen und Kurden sich nach der Demo dort einfinden würde. Um denen so richtig einzuheizen, hatten sie Messer, Macheten und Dönerspieße mitgebracht. Die Kurden ihrerseits nahmen die Stangen einer Straßensperre zur Hilfe, um sich zu verteidigen. Beide Seiten nutzten die genannten sozialen Netzwerke, um Verstärkung anzufordern. Die Kriegstrommeln heißen heute also Facebook und Twitter. Das geht aus einem Bericht der NDR hervor.

Es scheint so, als herrsche Einigkeit darüber, dass der Angriff von den Salafisten ausging. Schon vor einigen Wochen traten besorgte Eltern sowie Parlamentarierinnen wie die Bürgerschaftsabgeordnete der Linkspartei, Cansu Özdemir, an die Öffentlichkeit, um dieses Problem zu thematisieren (Heiliger Krieg als Familienersatz?). Als Erklärung werden immer wieder Ausgrenzung, Stigmatisierung und fehlende Zukunftsperspektiven genannt. Der Politologe Ahmad Mansour bietet im Spiegel noch eine weitere Erklärung: den Islam selbst. Der derzeit allerorten gepriesene friedliche Islam und die radikale Ideologie von IS unterscheide sich nur graduell, nicht prinzipiell, schreibt er:

Die Muslime, die da ihre Distanz beteuern, haben tatsächlich nichts zu tun mit dem Grauen des "Islamischen Staats". Aber ohne dass es ihnen bewusst ist, haben viele von ihnen selber jahrelang den Nährboden für Ideologien wie die der IS-Truppe geschaffen. Denn die Islamisten haben ja im Prinzip nichts Neues erfunden. Sie haben schlicht die Inhalte des gängigen Islamverständnisses überspitzt und radikalisiert. Ihre Haltung zum Umgang mit "Ungläubigen", ihre Haltung zur Umma, zur religiösen Gemeinschaft der Muslime, oder zur Rolle von Mann und Frau unterscheidet sich nur graduell, nicht prinzipiell. Die Basis ist die gleiche, beide, der Imam von nebenan und der IS-Ideologe, teilen miteinander viele Worte, Ängste, Tabus, Abwehrstrategien. Es sind diese veralteten, verkrusteten Inhalte, die mit der aufgeklärten Moderne derart in Kollision geraten, dass aus der Reibung eine Truppe wie der IS entstehen kann. … Wir Muslime müssen damit beginnen, die Ursachen auch bei uns zu suchen. Welche Denkfiguren und Glaubensinhalte werden denn von den Radikalen aufgegriffen und fundamentalistisch überspitzt? Leider kennen wir sie doch fast alle. Auch moderate Imame zelebrieren die Opferrolle von Muslimen, pflegen drastisch und erbarmungslos Feindbilder …

Die demonstrativ zur Schau getragene Einigkeit zwischen kurdischen, islamischen, alevitischen, politischen und kulturellen Organisationen, politischen Institutionen und der Polizei ist eine neue Entwicklung. Auch, dass die Medien auf ihre Hetze gegen "PKK-Terroristen" verzichten, selbst wenn aufgebrachte Kurdinnen und Kurden die Gleise am Hamburger Hauptbahnhof blockieren. Es ist eine gute Entwicklung. Politik und Justiz dürfen jetzt allerdings nicht die Chance verpassen, eine mehr als 20jährige politische Fehlentscheidung des damaligen Innenministers Manfred Kanther aus der Welt zu schaffen und das PKK-Verbot endlich aufzuheben.

Kurdische Organisationen in der BRD, wie z.B. Azadi (Freiheit) - Rechtshilfefond für Kurdinnen und Kurden in Deutschland e.V., fordern neben humanitärer Hilfe für Rojava und die Flüchtlinge im syrisch-türkischen Grenzgebiet, umgehend das PKK-Verbot aufzuheben, die PKK von der Terrorliste zu streichen und einen sofortigen Abschiebestopp in die betreffenden Gebiete zu erlassen. Wie Monika Morres von Azadi Telepolis gegenüber erläuterte, ist es "unmöglich, eine verlässliche Hausnummer betreffs der Folgen des PKK-Verbots zu nennen. Seit dem Verbot kurdischer Organisationen und Vereine im November 1993 wurden und werden tausende Menschen kurdischer Herkunft kriminalisiert. Razzien, Vereinsverbote- und durchsuchungen, Verhaftungen und polizeiliche Aufforderungen zur Denunziation gehören zum Alltag."

Azadi betreut 125 Gefangene, die aufgrund des PKK-Verbots nach §129 a oder b, Bildung einer terroristischen Vereinigung oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland, verurteilt wurden. Plus 21 Fälle, in denen die Türkei einen Auslieferungsantrag gestellt hat. Manchmal reicht es, einen Grillwagen von A nach B bewegt zu haben, um ins Visier der Staatsanwaltschaft zu gelangen. Weitere "Vergehen" sind: Parolen rufen, Fahnen schwenken, Zeitungen verkaufen oder Spenden sammeln. Bis vorgestern hätte ganz sicher auch das Blockieren von Bahnhofsgleisen dazu gehört …