Abschiebestopp nach Afghanistan: Seehofers widerwillige Kehrtwende
Schon vor den aktuellen militärischen Erfolgen der Taliban waren Geflüchtete aus dem Land meist erfolgreich, wenn sie vor Gericht gegen Ablehnungsbescheide klagten
Seit sich die Hiobsbotschaften aus Afghanistan überschlagen und das Land wieder vollständig unter die Kontrolle der radikalislamischen Taliban zu geraten droht, ist der Druck auf Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) zu groß geworden, um weiterhin Geflüchtete in das Land abschieben zu lassen. Aufgrund der aktuellen Sicherheitslage würden "Rückführungen nach Afghanistan" zunächst ausgesetzt, teilte das Ministerium am Mittwoch mit. Diesen Schritt hatten auch die EU-Botschafter in Afghanistan empfohlen. Die Grünen-Politikerin Luise Amtsberg nannte die "politische Kehrtwende" Seehofers überfällig: "Viel zu lange hat die Bundesregierung die dramatische Sicherheitslage in Afghanistan aus innenpolitischen Gründen ignoriert", erklärte sie am Mittwoch.
Bereits vor den aktuellen militärischen Erfolgen der Taliban und während der kürzlich beendeten Präsenz von Nato-Truppen in Afghanistan war die Lage dort zeitweise so angespannt, dass im laufenden Jahr mehr als drei Viertel der Afghaninnen und Afghanen, die vor deutschen Gerichten gegen ablehnende Bescheide des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) klagten, Recht bekamen. "Das ist eine bereinigte Aufhebungsquote von 76 Prozent", hatte die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke, Ulla Jelpke, Anfang August erklärt.
Im Jahr 2020 hatten sich noch 60 Prozent der beklagten Bescheide bei inhaltlicher Prüfung als rechtswidrig erwiesen - insgesamt 3.203. "Solche Fehlerquoten sind unerhört, denn immerhin geht es bei den Entscheidungen um Leben und Tod", hatte Jelpke betont.
Abgeschobene teils legal wieder in Deutschland
Nach Recherchen des ARD-Magazins Panorama sind mindestens fünf der 69 Afghanen, die im Juli 2018 an Seehofers 69. Geburtstag abgeschoben wurden - was er offenbar lustig fand - inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt und hielten sich Anfang dieses Jahres legal hier auf. Am 3. Juli 2018 hatte Seehofer mit dem Satz für Aufsehen gesorgt: "Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 - das war von mir nicht so bestellt - Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden." Wenige Wochen vor der Bundestagswahl 2021 versprach er am Mittwoch seiner Zielgruppe, sobald es die Lage zulasse, würden "Straftäter und Gefährder wieder nach Afghanistan abgeschoben".
Wer glaubt, es handle sich bei den Abgeschobenen sowieso nur um Sympathisanten der Taliban, irrt. Jelpke, die regelmäßig parlamentarische Anfragen zum Themenkreis Flucht und Migration sowie zur Sicherheitslage im Herkunftsland gestellt hatte, weiß von Einzelschicksalen ganz anderer Art:
Allein im Mai und Juni 2021 wurden in dem kriegsgeschüttelten Land 2.392 Zivilisten verletzt oder getötet. Unter den Getöteten war auch ein Mann, der im Februar aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben wurde. Er hatte sich einem Rekrutierungsversuch der Taliban widersetzt und wurde dann bei einem Granatenangriff auf sein Haus tödlich verletzt.
Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl bezeichnete den Abschiebestopp als "lange überfällig" und forderte weitere Maßnahmen, um beispielsweise das Leben von Ortskräften zu schützen, "die in Afghanistan für deutsche Institutionen tätig waren und durch den Vormarsch der Taliban jetzt in großer Gefahr sind". Diese und weitere Gefährdete müssten ausgeflogen werden. Dazu gehörten auch alle, die für Subunternehmer der Bundeswehr oder die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet hätten. "Wer den Arbeitsvertrag ausstellt, ist den Taliban egal", betonte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt am Mittwoch.
Auch müssten schnell unbürokratische Lösungen für den Familiennachzug gefunden werden, da die Visa-Abteilung der Deutschen Botschaft in Kabul geschlossen sei. Zur Zeit müssten Visa-Anträge auf Familiennachzug in Islamabad oder Neu-Delhi gestellt werden, was kurzfristig nicht möglich ist.