Äthiopien: Vom Bürgerkrieg zum antikolonialen Krieg?

Seite 3: Antirassismus und Antikolonialismus

Absurd wirkt der Vorwurf des Neokolonialismus und Rassismus durch die äthiopische Regierung und ihrer Unterstützer. Während Regierungsunterstützer in aller Welt laut "no more" rufen, werden gleichzeitig in Äthiopien ethnische Konflikte geschürt und im ganzen Land tigraystämmige Menschen – egal ob sie die TPLF unterstützen oder nicht – umgebracht, inhaftiert oder deportiert. All dies begleitet von einer durchaus rassistisch aufgeladenen Hasspropaganda. Die Rede ist von "Unkraut" oder "Krebs", welche beseitigt werden müssten.

Antirassismus und Antikolonialismus sind – ebenso wie ein Widerstand gegen das Vormachtstreben der USA – wichtige Haltungen und Positionen. Allerdings wird die berechtigte Kritik am Neokolonialismus geradezu diskreditiert und in den Dreck gezogen, wenn sie dazu benutzt wird, Teile des eigenen Volkes zu unterdrücken, das Land an die - ebenfalls neokoloniale – Politik Chinas zu verkaufen, ethnisch bestimmte Hasspropaganda gegen das eigene Volk zu organisieren und unzählige Kriegsverbrechen damit zu bemänteln.

Wenn versucht wird Völkermord, Hass, Vergewaltigung, Zerstörung und neoliberale Wirtschaftspolitik als antikoloniale Haltung zu verkaufen, wird echte Kritik am Vormachtstreben der USA und an Neokolonialismus und Rassismus entwertet und pervertiert.

Legenden & Propaganda

Wie immer in derartigen Konflikten wird eine Fülle von Falschmeldungen produziert und wiederholt. Einige halten sich hartnäckig. Die folgende Aufstellung erhebt somit keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es werden lediglich einige besonders beliebte Aussagen aufgegriffen.

Beginn des Bürgerkrieges

Teil der Legendenbildung ist die Darstellung, wer den Bürgerkrieg begonnen hat. Gerne wird hier behauptet, der Konflikt hätte mit dem Überfall auf das in Tigray stationierte äthiopische Nordkommando durch Kräfte der TPLF begonnen. Mittlerweile wissen wir, dass die Kriegsvorbereitungen lange vor dieser Aktion begonnen hatten. Jeder, der sich auch nur ansatzweise mit Militärtaktik auskennt, weiß, dass es schlicht unmöglich ist, einen koordinierten Einmarsch wie er durch äthiopische und eritreische Kräfte am 4. November stattfand, innerhalb von ein paar Tagen auf die Beine zu stellen.

Die Truppen waren Wochen vor der Aktion gegen das Nordkommando an den Grenzen aufmarschiert und bereit zuzuschlagen. Hinzu kommt, dass es bereits vor dem Überfall auf das Nordkommando Kommandoaktionen in Tigray gegeben hatte, um die Führung der TPLF zu verhaften.

Lange wurde von Abiy Ahmed Ali jegliche Anwesenheit von eritreischen Truppen in Äthiopien geleugnet. Als sich dies so offensichtlich war, dass es nicht mehr verbergen ließ, wurde behauptet, die Eritreer hätten in einem Akt der Selbstverteidigung auf Raketenbeschuss durch die TPLF geantwortet. Auch dies ist so nicht richtig, wie wir heute wissen. Es flogen tatsächlich Raketen auf eritreische Ziele. Allerdings wurden Ziele in Tigray bereits vorher von Eritrea aus mit Drohnen angegriffen und äthiopische Kampfflugzeuge nutzten den Flughafen in Asmara für Luftangriffe.

Freie Wahlen

Gerne wird behauptet, dass Abiy Ahmed Ali seine Macht durch freie Wahlen legitimiert hätte. Auch hier sind Zweifel angebracht. Wenn wichtige Oppositionskräfte – insbesondere aus der zahlenmäßig stärksten Bevölkerungsgruppe der Oromo - inhaftiert werden, keine freie Berichterstattung und kein freier Wahlkampf zugelassen wird und in einigen Bundesländern Wahlen ausgesetzt und verschoben werden, kann von freien Wahlen kaum die Rede sein.

In seinem kürzlich veröffentlichten Report über den globalen Status der Pressefreiheit stufte das Committee to Protect Journalists in einer Aufstellung zu Afrika Äthiopien als das Land mit den meisten inhaftierten Reportern knapp hinter Eritrea ein.

Friedensvertrag mit Eritrea

Bis heute ist der Wortlaut des sogenannten Friedensvertrages mit Eritrea selbst den Parlamentariern in Addis Abeba nicht bekannt und wird unter Verschluss gehalten. Immerhin führte dieser Vertrag – auch ohne Kenntnis des Inhalts - zu der besonders vom Westen gefeierten Ehrung von Abiy Ahmed Ali mit dem Friedensnobelpreis.

Mittlerweile kann davon ausgegangen werden, dass dieser "Friedensvertrag" vor allem dazu diente, ein Kriegsbündnis gegen die TPLF zu schmieden. Beide Parteien sahen die TPLF als Bedrohung ihrer Machtposition, und es gab seitens des eritreischen Diktators noch offene Rechnungen aus der Vergangenheit.

TPLF will wieder die Macht in ganz Äthiopien ergreifen

Spätestens nachdem die Kräfte der TDF weit in Amharengebiet Richtung Addis vorgerückt waren, wird ihnen unterstellt, sie wollten erneut die Macht in Äthiopien ergreifen. Allerdings hat sich in der TPLF mittlerweile die Position durchgesetzt, für Tigray die Unabhängigkeit von Äthiopien anzustreben und dazu ein Referendum durchzuführen. Mittlerweile erheben allerdings Amharen Anspruch auf das besetzte Westtigray.

Ohne Westtigray wäre ein unabhängiges Tigray nicht lebensfähig, da es von allen Seiten von feindlichen Gebieten umschlossen wäre. Nach Aussage der TPLF diente der Vormarsch nach Süden vor allem dazu, ein Verhandlungspfand in der Hand zu haben, um damit den Rückzug aller Besatzer durchzusetzen. Eine Rückkehr an die Macht war nicht angestrebt.