Afghanische Binnenflüchtlinge: Die Ärmsten der Armen
Ein Zehntel der afghanischen Bevölkerung befindet sich auf der Flucht und lebt im Exil
Während der Fokus der Öffentlichkeit hauptsächlich auf jene Geflüchteten liegt, die gen Europa ziehen, bleiben die zahlreichen Binnenflüchtlinge in vielen Regionen der Welt ungeachtet. Ein beträchtlicher Anteil dieser Menschen befindet sich in Afghanistan. Während viele Afghanen weiterhin ihre Heimat verlassen, sind viele von ihnen gezwungen, in ihrer Heimat zu bleiben. Die Anzahl der Binnenflüchtlinge am Hindukusch hat einen neuen Höchststand erreicht.
Ein neuer Bericht von Amnesty International kritisiert in diesem Kontext vor allem die Tatenlosigkeit der afghanischen Regierung sowie der internationalen Staatengemeinschaft. Laut dem Bericht leben in Afghanistan zum gegenwärtigen Zeitpunkt mindestens 1,2 Millionen Binnenflüchtlinge, meist unter verheerenden Bedingungen. Demnach hat sich die Zahl der Geflüchteten innerhalb der Landesgrenzen in nur drei Jahren verdoppelt.
Die Menschenrechtsorganisation hebt hervor, dass die afghanischen Binnenflüchtlinge sich in einer weitaus schlimmeren Lage befinden als jene Geflüchteten, die bereits auf dem Weg nach Europa sind. Afghanen stellen nach Menschen aus Syrien weiterhin die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe weltweit dar. Rund ein Zehntel der afghanischen Bevölkerung befindet sich auf der Flucht und lebt im Exil.
Allein im Laufe der letzten Wochen und Monate wurden Tausende von Afghanen vertrieben oder zur Flucht gezwungen. Laut der UN sind allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres über 37.000 Familien vor Gefechten geflohen. Bei einer durchschnittlichen Familiengröße von sieben Personen wären das ungefähr 260.000 Menschen. Dies hat vor allem mit der Tatsache zu tun, dass kriegerische Handlungen im ganzen Land zunehmen. Sowohl die afghanische Armee als auch die Taliban liefern sich immer heftigere Kämpfe. Außerdem macht das Aufkommen von neuen Gruppierungen wie dem IS sowie die immer noch regelmäßig stattfindenden Bombardements der Nato den Menschen das Leben schwer. Laut dem Amnesty-Bericht werden täglich im Durchschnitt 1.000 Menschen vertrieben.
Da der Krieg in Afghanistan vor allem in ländlichen Regionen präsent ist, zieht es die Vertriebenen oftmals in Städte wie Kabul, wo sie zu den Ärmsten der Armen gehören und in heruntergekommenen Behausungen leben. In den täglich wachsenden Slums herrschen katastrophale hygienische Zustände, die vor allem für Krankheiten und Epidemien einen Nährboden bieten.
Gleichzeitig macht die Lage der afghanischen Binnenflüchtlinge die Ungleichheit in den Städten deutlich. Szenen von Flüchtlingskindern, die nahe den pompösen Villen und Hochzeitshallen täglich betteln oder schwerster Arbeit nachgehen, um ihre Familien zu ernähren, lassen dies mehr als deutlich werden und gehören mittlerweile zu Kabuler Stadtbild. Und während viele Menschen aus Kabul - immerhin herrscht auch in der Hauptstadt Krieg, was die regelmäßig stattfindenden Anschläge deutlich machen - ihre Sachen packen und ins Ausland fliehen wollen, werden die Kriegsflüchtlinge aus der Provinz wie Menschen zweiter Klasse behandelt und diskriminiert.
Zivile Opfer nehmen weiterhin zu
Parallel zu der hohen Anzahl von afghanischen Geflüchteten innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen nimmt auch die Anzahl der Kriegsopfer zu. Laut der UN wurden im Jahr 2015 über 11.000 Zivilisten am Hindukusch verletzt oder getötet - ein Höchststand seit Beginn der Zählung im Jahr 2009. Mittlerweile liegt auch der UN-Bericht für das erste Quartal 2016 vor. Laut diesem gab es über 1.900 zivile Opfer während dieses Zeitraums. Dies stellt einen Anstieg von zwei Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum 2015 dar.
Laut der UN sind die Taliban sowie andere aufständische Gruppierungen weiterhin für die meisten zivilen Opfer im Land verantwortlich. Statistisch betrachtet verursachen diese mit rund sechzig Prozent drei Mal so viele zivile Opfer wie etwa Regierungsstreitkräfte. Jedoch steigt die Beteiligung afghanischer Streitkräfte sowie regierungsnaher Milizen seit einiger Zeit.
Nicht alle Beobachter sind mit den jährlichen Berichten der UN einverstanden. Immer wieder steht der Vorwurf im Raum, die konservative Zählung würde nicht alle Opfer berücksichtigen. Laut der Methodik der Organisation sind mindestens drei verschiedene Quellen für die Bestätigung eines einzelnen Falles notwendig. In den kriegerischsten Regionen Afghanistans sind allerdings kaum Journalisten und Menschenrechtler vor Ort.
Auch die Berichterstattung lässt in vielen Punkten zu wünschen übrig. Erst vor kurzem machte der britische Guardian darauf aufmerksam, dass wahrscheinlich Hunderte weiterer ziviler Opfer in den Statistiken nicht auftauchen würden.
Es liegt auf der Hand, dass der langjährige Krieg in Afghanistan die Binnenflüchtlinge des Landes am Härtesten trifft. Sie stellen die unterste Gesellschaftsschicht dar, geraten stets zwischen den Fronten und sind die ersten Opfer. Im Vergleich zu vielen anderen Menschen, allen voran der kleinen Mittelschicht sowie den reichen Eliten, können sie sich keine Flucht in westliche Staaten leisten. Ihr deutlich präsentes Elend stellt einen starken Kontrast zum Leben der Verschwenderischen und Reichen des Landes dar. In Anbetracht der alltäglich dominierenden Ignoranz wird sich daran wohl in naher Zukunft kaum etwas ändern.