Afghanistan: Die Mär von der Frauenbefreiung

Archivbild: Afghanische Frauen stehen vor der US-Botschaft in Kabul, Mittwoch, 1. März 2006. Foto: Weißes Haus/gemeinfrei

Nur der Westen ist in der Lage, die afghanischen Frauen vor ihren "wilden" Vätern, Ehemännern, Brüdern oder Söhnen zu retten? Ein Buchauszug

Mit der Operation Enduring Freedom begann am 7. Oktober 2001 der "Krieg gegen den Terror" in Afghanistan, der bis heute zum längsten Krieg der USA und ihrer Verbündeten geworden ist, mit Tausenden Toten und Verletzen, auch unter den deutschen Soldaten. Dieser neokoloniale "Kreuzzug" hat Wunden hinterlassen, die womöglich niemals heilen werden.

Emran Feroz beschreibt diesen Krieg in seinem Buch "Der längste Krieg - 20 Jahre War on Terror" nun erstmals aus afghanischer Perspektive. Er hat mit vielen Menschen vor Ort gesprochen: von Hamid Karzai über Taliban-Offizielle bis zu betroffenen Bürgern, die vor allem unter diesem Krieg leiden. Ein Auszug aus dem Buch, das heute erscheint:

Das sechste Vergehen des "War in Terror" in Afghanistan

"Ich befürchte, dass afghanische Frauen und Mädchen besonders zu Schaden kommen werden. Sie werden zurückgelassen und von diesen brutalen Menschen abgeschlachtet. Das bricht mir das Herz", sagte George W. Bush in einem Interview mit der Deutschen Welle im Juli 2021.

Ausgerechnet Bush zeigte sich aufgrund des NATO-Abzugs aus Afghanistan besorgt - und er wollte die Öffentlichkeit ein weiteres Mal davon überzeugen, dass sein "Kreuzzug" die Position der afghanischen Frauen verbessert hätte. Diese faktisch falschen Aussagen wurden vom verantwortlichen Medium nicht hinterfragt, vielmehr wurde dem Kriegsverbrecher Bush eine Plattform zur Selbstdarstellung gewährt.

Die Befreiung der afghanischen Frau gehört seit jeher zu den wichtigsten Argumenten für Militärinterventionen am Hindukusch. Das galt nicht erst seit dem amerikanischen "War on Terror", sondern bereits für die Kolonialisierungsversuche der Britischen Krone sowie beim Einmarsch der sowjetischen Truppen. Während die letzten Zeilen des vorliegenden Buches verfasst werden, hört man abermals vom "Verrat an den afghanischen Frauen" oder davon, dass diese "im Stich gelassen werden".

Allem Anschein nach ist nur der Westen in der Lage, die afghanischen Frauen vor ihren "wilden" Vätern, Ehemännern, Brüdern oder Söhnen zu retten. Dabei wird bei dieser Art der Berichterstattung und den damit verbundenen Narrativen meist unterschlagen, dass es den westlichen Mächten in Afghanistan nie um die afghanische Frau ging, sondern lediglich um ihre eigenen Interessen.

Diese wurden in erster Linie nicht von Frauen bedient, sondern von brutalen Warlords und Menschenrechtsverbrechern, die in Sachen Frauenrechte den Taliban und anderen extremistischen Akteuren in nichts nachstanden. Diese Akteure, unter ihnen etwa bekannte Politiker, Kriegsfürsten oder religiöse Kleriker, machten sich oftmals sogar über aufstrebende Frauen, die die Position ebenjener Männer kritisch hinterfragten, lustig, behandelten diese respektlos oder beleidigten sie gar vor laufenden Kameras.

Betroffen waren davon oftmals Journalistinnen, Aktivistinnen oder Politikerinnen. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die ehemalige Parlamentsabgeordnete und Frauen- und Menschenrechtsaktivistin Malalai Joya, die 2005 während einer Parlamentssitzung mehrere anwesende männliche Abgeordnete kritisierte und zu Recht klarstellte, dass es sich bei ihnen sowie bei zahlreichen anderen Politikern in Kabul, die "mittels der Demokratie" an die Macht gekommen waren, de facto um Kriegsverbrecher handelt, die Afghanistan wenige Jahre zuvor in Schutt und Asche gelegt hatten.

Joya wurde daraufhin beschimpft, angegriffen und des Saales verwiesen. Dabei sprach sie lediglich jene Tatsache an, die der Westen bis heute verdrängt: Den vermeintlichen Befreiern ging es niemals um Frauenrechte in Afghanistan, sondern lediglich um die eigenen Machtinteressen und die Erhaltung des "War on Terror", der Millionen von afghanischen Frauen und Mädchen zusätzliches Leid bescherte. Besonders deutlich wird dies etwa in Regionen Afghanistans, die selten von westlichen Journalisten aufgesucht werden.

Ein Beispiel hierfür ist das Dorf Badikhel in der Provinz Khost nahe der pakistanischen Grenze. Rund 250 Familien leben hier. Darunter auch Habib ur-Rahman, ein breitschultriger Mann Anfang fünfzig. Einst diente er der afghanischen Armee als Pilot, bis er Herzprobleme bekam und seine Karriere beenden musste.

Kurz darauf zog ur-Rahman mit seiner Familie zurück in sein Heimatdorf, wo er seit rund zwei Jahren eine kleine Mädchenschule betreibt - ehrenamtlich und in seinem eigenen Haus. Tagsüber unterrichtet er rund 30 Schülerinnen in seinem Wohnzimmer, abends schiebt er die Tische und Stühle zur Seite und breitet für sich und seine Familie die Matratzen zum Schlafen aus. Badikhel wird gegenwärtig nicht von den Taliban kontrolliert.

Allerdings ist der Einfluss der Extremisten mittlerweile auch in dieser Region stark angestiegen, ähnlich wie in vielen anderen Landesteilen Afghanistans. Umso revolutionärer ist Habib ur-Rahmans privates Bildungsprojekt. Einst ließen die Taliban zahlreiche Mädchenschulen schließen, untersagten Millionen von afghanischen Frauen jegliche Bildung und Arbeit. Heute schicken selbst aktive Taliban-Mitglieder aus der Region ihre Töchter, Schwestern und Nichten in ur-Rahmans Hausschule.

Lokale Graswurzelbewegungen*

Probleme hatte der Lehrer nämlich nicht nur mit den Extremisten, sondern auch mit vielen skeptischen Dorfbewohnern, die er überzeugen musste. In Afghanistans ländlichen Gebieten existieren teils äußerst konservative Gesellschaftsstrukturen, die man nicht einfach durchbrechen kann - vor allem nicht mit Gewalt.

Stattdessen sind lokale Graswurzelbewegungen notwendig, die solche Strukturen konstruktiv und nachhaltig zum Positiven verändern. Habib ur-Rahmans Initiative ist das beste Beispiel hierfür. Im Laufe der Zeit konnte er zahlreiche Familien dazu bewegen, ihre Töchter in seine Schule zu schicken. Bei ihm lernen sie täglich von morgens bis zum Mittagsgebet Rechnungswesen, Geografie, Islamkunde, Geschichte sowie ihre Muttersprache Paschtu.

Zu Zeiten des Taliban-Regimes wäre eine Mädchenschule in Badikhel, die obendrein noch von einem Mann geführt wird, kaum denkbar gewesen. Doch in den letzten zwanzig Jahren haben sich auch die Dörfer verändert. Habib ur-Rahman meint, dass jene Extremisten, die aus seinem Dorf stammen, kein Problem mit seiner Schule haben würden. "Ihre weiblichen Verwandten besuchen meine Schule, während sie kämpfen und sich verstecken. Die Taliban-Kämpfer leben nicht mehr in unserem Dorf, doch sie haben die Mädchen zum Schulbesuch ermutigt. Ihre Bildung liegt ihnen am Herzen", sagt er.

Als die Taliban in den 1990er-Jahren an die Macht kamen, setzten sie ihre extremistisch-patriarchalen Wertvorstellungen in die Praxis um. Frauen durften de facto nicht einmal auf die Straße gehen ohne die Begleitung eines engen männlichen Verwandten. Mädchenschulen waren in vielen Landesteilen verboten.

Heute hält sich die Taliban-Führung bewusst vage. "Wir wollen nicht die Bildung von Mädchen und Frauen oder das Ausüben ihrer Arbeit verbreiten. Allerding haben wir islamische Normen, die uns wichtig sind. Wir leben nicht im Westen", betonte etwa Sher Mohammad Abbas Stanekzai, ein Mitglied der Taliban-Delegation in Katar, in mehreren Interviews.

Wie genau diese Normen auszusehen haben, können die Extremisten oftmals selbst nicht beantworten. Außerdem weisen viele Afghanen zu Recht auf die heuchlerische Haltung der Taliban-Führung in Katar hin, die mitsamt ihrer Familien im Golfemirat lebt und ihre Söhne und Töchter auf teure Privatschulen schickt, in denen meist liberalere Strukturen herrschen als in den in afghanischen Bildungsinstitutionen.

Mit modernen Eliteuniversitäten hat die Mädchenschule im Dorf Badikhel allerdings nichts gemein. Vielmehr zeigt sie, wie paradox und komplex die Situation vor Ort sein kann. Während die männlichen Verwandten der Schülerinnen ur-Rahmans die Mädchen in die Schule schicken, drohten andere Taliban-Kämpfer Habib ur-Rahman Konsequenzen an. "Diese Drohungen stören nicht nur den Kern meiner Arbeit, sondern sind gegen mich und meine Familie gerichtet. Das macht das Leben hier natürlich nicht einfacher", erzählt ur-Rahman.

Kenner der Region sind über das widersprüchliche Verhalten der Taliban in Badikhel nicht überrascht. Laut der politischen Ethnografin Orzala Nemat, die die "Afghanistan Research and Evaluation Unit" (AREU) in Kabul leitet, verhielten sich die Extremisten bereits Ende der 1990er-Jahre ähnlich: "Die Taliban waren nie in der Lage, ihre eigenen Männer von ihren im Grunde genommen zutiefst unislamischen Anordnungen, wie die Schließung von Mädchenschulen, zu überzeugen", sagt sie.

"Keine Ahnung von ihrer Religion"

Wie viele andere Afghanen ist Nemat der Meinung, dass die Taliban im Grunde genommen gegen den Islam handeln und von ihrer Religion keine Ahnung haben. Immerhin wurde die erste Hochschule der Menschheitsgeschichte, die Universität von Al-Qarawiyyin im marokkanischen Fes, im 9. Jahrhundert von der muslimischen Wohltäterin Fatima al-Fihri gegründet. Sie hat ihre Pforten bis heute geöffnet. Auch in Khost-Stadt gibt es mittlerweile eine Universität. Habib ur-Rahmans Söhne studieren dort. "Einer wird Arzt, der andere Ingenieur. Sie machen mich sehr stolz", sagt er.

Für die Schule ihres Vaters besorgen die beiden Studenten manchmal Lehrbücher in der Stadt oder springen als Ersatzlehrer ein. Die Universität ist auch das Ziel von ur-Rahmans Schülerinnen. "Eines Tages will ich an die Uni. Ich will Ärztin oder Lehrerin werden und meinem Volk dienen", sagt Latifa, deren Bruder ein Taliban-Kämpfer ist. Ihr Abitur müsste sie allerdings in der Stadt machen, denn Habib ur-Rahmans Hausschule geht nur bis zur sechsten Klasse. Unterstützt wird der Lehrer von fast niemandem.

Die wenigen Utensilien in seinem Klassenzimmer kaufte er von Spenden der Dorfbewohner. In den afghanischen Dörfern hat das Fehlen von Bildungsangeboten nämlich nicht nur mit den Taliban und ihrem Gedankengut zu tun. "Ich frage mich, ob die Regierung überhaupt weiß, dass ich in meinem eigenen Haus eine Schule betreibe. Viele Menschen sprechen über Schulen und Universitäten in der Hauptstadt, doch was ist mit den Dörfern?", sagt er.

Allein seitens der US-Regierung wurden in den letzten zwei Jahrzehnten rund eine Milliarde Dollar in das afghanische Bildungssystem gesteckt. Man wollte Hunderte von neuen Schulen errichten und Klassenzimmer mit Schülerinnen füllen. Doch stattdessen wanderte vieles von dem Geld in die Taschen korrupter Kriegsfürsten und Politiker. Viele Schulen blieben völlig leer, während zeitgleich Gelder für sie akquiriert wurden.

Geisterschulen

Recherchen der US-amerikanischen Journalistin Azmat Khan zeigten, dass im Jahr 2015 mindestens 1 100 Schulen vom afghanischen Bildungsministerium betrieben wurden. Doch nur in einem Bruchteil von ihnen wurde tatsächlich unterrichtet. Diese "Geisterschulen", wie die Schulen von Kritikern genannt werden, existierten lediglich auf dem Papier, um Hilfsgelder zu waschen. In vielen Fällen wurden sogar bewusst Mädchenschulen ausgewiesen, damit der westliche Geldfluss erhalten bleibt.

"Unsere Schule ist real, doch niemand scheint sich dafür zu interessieren. Westliche Hilfsgelder haben diesen Fleck Afghanistans noch nie erreicht", sagt ur-Rahman. Er weiß, dass sich daran auch in naher Zukunft wohl nichts ändern wird. Die Menschen in Khost leben in erster Linie von ihrer eigenen, tüchtigen Arbeit. Während in der Provinz sowohl Männer als auch Frauen auf den Feldern arbeiten und im Sommer mit der Ernte beschäftigt sind, reisen viele Männer als Arbeitsmigranten in die Vereinigten Arabischen Emirate.

Dort sind sie meist als Taxifahrer, Bauarbeiter oder in der Gastronomie tätig. Den Ertrag ihrer Arbeit reinvestieren sie in Khost, das mittlerweile zu einer ansehnlichen Stadt herangewachsen ist. Diese ökonomischen Strukturen sind im Übrigen auch ein Grund dafür, dass viele Menschen sich nicht den Taliban anschließen.

Seit die Vereinigten Staaten im Frühjahr 2020 einen Abzugsdeal mit den Taliban unterzeichnet haben, ist eine Art der Rückkehr der militanten Gruppierung dennoch wahrscheinlich. In den urbanen Zentren Afghanistans befürchten viele Beobachter und Afghanen einen Rückfall in alte, düstere Taliban-Zeiten - samt neuen Bildungsverboten für Frauen und Mädchen, obwohl die Kabuler Regierung von Präsident Ashraf Ghani und die amerikanischen Unterhändler verdeutlicht haben, dass sie derartige Praktiken nicht dulden würden.

"Der Gang zur Schule war für afghanische Frauen schon immer schwierig. Doch nun bin ich optimistisch, dass sich die Dinge langsam verändern. Ich bin glücklich, dass ich in die Schule gehen darf und dort vieles lernen kann", sagt Mahbuba, eine von Habib ur-Rahmans Schülerinnen. Anfangs seien einige ihrer Familienmitglieder gegen ihren Schulbesuch gewesen. Mittlerweile werde sie allerdings von allen unterstützt: "Sie spornen sogar andere Verwandte an, ihre Töchter ebenfalls in die Schule zu schicken. Das sollte selbstverständlich sein, denn wir sind ein wichtiger Teil der afghanischen Gesellschaft."

Von den Afghanen selbst in Gang gebracht

Positive Errungenschaften wie jene in Badikhel wurden von den Afghanen selbst in Gang gebracht - ohne westliche Hilfe. Zeitgleich meinen viele westliche Beobachter weiterhin, dass die afghanische Frau nur mittels einer Intervention von außen "befreit" werden kann. Hierfür wurden in den letzten zwei Jahrzehnten Strukturen gefördert, die zutiefst frauenfeindlich sind und aufgrund ihrer Korruption und Machtgier progressiven Projekten wie Habib ur-Rahmans Hausschule im Weg stehen.

Die Kabuler Regierung und ihre westlichen Verbündeten schrieben sich zwar die Rechte der Frau auf die Fahne, allerdings traten sie diese meist mit Füßen. Allein in der Hauptstadt sind gegenwärtig Tausende von Frauen als Bettlerinnen oder Prostituierte tätig, während vermeintliche Frauenrechtlerinnen im westlichen Rampenlicht stehen und sich privat bereichern.

Ein Beispiel hierfür ist etwa die Politikerin und ehemalige Präsidentschaftskandidatin Fawzia Koofi. Sie ist auch Teil jener Delegation, die seit geraumer Zeit die afghanische Regierung in den Verhandlungen mit den Taliban vertritt. Innerhalb Afghanistans ist Koofi allerdings vor allem für Korruption und andere fragwürdige Geschäfte bekannt. 2015 veröffentlichte die "Revolutionäre Vereinigung der Frauen Afghanistans" (RAWA), eine der wohl bekanntesten Frauenrechtsorganisationen des Landes, einen Artikel, in dem Koofis "wahres Gesicht" beschrieben wird. Unter anderem werden ihr darin Kontakte zu Drogenfürsten und Warlords vorgeworfen.

Auch der deutsche Afghanistan-Kenner Thomas Ruttig schrieb über die Machenschaften der korrupten Polit-Elite und nannte in diesem Kontext explizit Koofis Namen. Ruttig und anderen Berichten zufolge sollen Koofis Brüder ein mafiöses Schmugglernetzwerk in ihrer Heimatprovinz Badakhshan unterhalten und in zahlreiche Drogenschäfte verwickelte sein.

Afghanische Medien berichteten sporadisch über Koofis Familie und deren kriminelle Verstrickungen. Seit den Friedensverhandlungen mit den Taliban wurde Koofi von zahlreichen westlichen Medien interviewt und porträtiert. Die Vorwürfe gegen ihre Person wurden dabei meist konsequent übergangen. Stattdessen wurde sie zur standhaften, heroischen Frau, die den Taliban die Stirn bietet, stilisiert und 2020 sogar für den Friedensnobelpreis nominiert.