Afghanistan: "Die Taliban 2021 sind ein völlig anderes Lebewesen als die Taliban 2001"

Ausbildung einer Taliban-Elitetruppe. Bild: Propagandamaterial Taliban

Erste Signale aus dem Islamischen Emirat zeigen, dass die Taliban Diplomatie gelernt haben. Wird doch alles besser, als man es von den "Barbaren" befürchtet?

Präsident Ashraf Ghani ist verschwunden ins Exil (angeblich in den Vereinigten Arabischen Emiraten), begleitet von einem Haufen Hohn und Schande. Der Chef des Polit-Büros der Taliban, Mullah Abdul Ghani, bekannt als "Baradar (Bruder) Akhund", kam gestern zurück aus seinem Exil in Doha und wurde bejubelt.

"Das Islamische Emirat Afghanistan meldet sich mit einem Paukenschlag zurück", schrieb Pepe Escobar vor zwei Tagen: "Was die Taliban wollen, ist ein nahtloser Übergang: Sie sind jetzt das Islamische Emirat von Afghanistan. Der Fall ist abgeschlossen."

Abgeschlossen ist nur das große Zwischenziel. Wie geht es nach der Machtübernahme weiter? Wird das neue Emirat ein anderes sein als das vorgängige von 1996 bis 2001? Nimmt man die Äußerungen von Taliban-Sprecher Suhail Shaheen als Maßgabe und dazu die Pressekonferenz der Taliban, so "wird alles gut, wenn man ihnen nur vertraut"?

Auf diese kurze, angesichts der Befürchtungen gegenüber den "Barbaren" provokante Alles-wird-gut-Botschaft kam der Spiegel in seinem Kurzbericht über die Pressekonferenz, um in derselben Zeile aber auch gleich Zweifel gegenüber den "unerwarteten Versprechen" anzumelden.

Versprechen

Die Versprechen lauten in der Zusammenfassung von Moon of Alabama, um ein Medium zu zitieren, dessen kritische Distanz zu den leitenden Narrativen des "US-Nato-Westens" bekannt ist, ausschnittweise wie folgt: Es handelt sich aus der Sicht der Taliban um eine Befreiung des Landes. Denen, die sie bekämpft haben, werde verziehen. Man wolle keine äußeren oder inneren Feinde.

Die Sicherheit in Kabul, auch der Botschaften, werde gewährleistet. "Wir wollen kein Chaos und keine Unannehmlichkeiten in Kabul". Der internationalen Gemeinschaft wird versichert, dass "kein Land von afghanischem Boden aus Schaden erleiden wird".

Ein paar Punkte wurden auch von Taliban-Sprecher Suhail Shaheen bereits zuvor in Bekanntmachungen herausgestellt, etwa die Amnestie für ehemalige Mitarbeiter der ausländischen Streitkräfte, von ihm "Invasoren" genannt, oder die Sicherheits-Garantien für ausländische Botschaften sowie auch für die Sicherheit des privaten Wohnraums, wobei man da einen Spielraum lässt. Mit "Erlaubnis" ist es den Mudschahidin nämlich schon gestattet, dort einzudringen.

Die Frauenrechte

Einen wichtigen Raum nahm auch bei der Pressekonferenz die Frage ein, wie es denn um die Rechte der Frauen bestellt ist. "Frauen sind ein wichtiger Teil der Gesellschaft. Man wolle mit ihnen zusammenarbeiten. Im Rahmen des Islam". Was das Blog Moon of Alabama hier zitiert, wurde in den vergangenen Tagen auch von großen Medien schon gestreut.

Sky News überlieferte von Suhail Shaheen, dass "Frauen in Afghanistan das Recht haben werden, zu arbeiten und bis zur Universität ausgebildet zu werden". Tausende von Schulen würden nach der Übernahme durch die Taliban weiterhin in Betrieb sein. (Nachtrag: Einzufügen wäre hier, dass die Scharia den Rahmen abgibt, die Lerninhalte werden danach ausgerichtet. Es wäre keine Überraschung, wenn der Schulbesuch sich in vielen Fällen, gerade auf dem Land, auf Religionsschulen, Madrassa, begrenzt.)

Nimmt man an, dass die Taliban einen Sinn für Pragmatik haben, den sie militärisch mit ihrem gut vorbereiteten, schnell und effizient, ohne großes Blutvergießen, durchgeführten Eroberungskrieg an den Tag legten, so kann man davon ausgehen, dass die Aussage, dass Frauen auch unter der Taliban-Herrschaft studieren können, nicht nur Image-Politik ist.

Sie brauchen Ärztinnen, gerade auch unter Scharia-Regelungen, die bei der medizinischen Behandlung auf Geschlechtertrennung beharren. Und die Taliban brauchen Frauen, um eine gute funktionierende Verwaltung aufzubauen, als Basis für eine Regierung, die ihre Versprechen halten kann.

Wie streng die Scharia gehandhabt wird, wird ein wichtiges Zeichen dafür sein, ob die neuen Taliban dazugelernt haben und was sie dazugelernt haben, außer in die bereitgehaltenen Mikrofone und Kameras genau das zu sagen, womit man die Wahrnehmung der gut ausrechenbaren Westler verblüffen und sie gleichzeitig beruhigen kann. Sie haben bei der Image-Politik viel dazugelernt.

Für die Fakten-Checker haben sie viele konkrete Versprechen ausgelegt, um sie daran zu messen.

Wir versichern, dass alle begnadigt worden sind. Keine Rache. Wir wollen nicht, dass sie gehen. Wir brauchen ihre Talente. Niemand wird verhört oder sein Haus durchsucht. Alle Soldaten, die gegen uns gekämpft haben, werden begnadigt.

Taliban-Pressekonferenz, Moon of Alabama

Unterschiede zu den Taliban des früheren Emirats

Die Taliban selbst behaupten, dass sie sich weiterentwickelt haben. Es werde einen Unterschied geben zwischen dem, was die Taliban vor 24 Jahren in der Regierung getan haben, und dem, was sie in Zukunft tun werden.

Geht es nach dem Autor des "Standardwerkes" über das, was die Taliban vor 24 Jahren in der Regierung so getan haben, Ahmed Rashid, Verfasser des Buches "Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad", so wird es keinen großen Unterschied geben.

In einem Gespräch mit dem US-Sender NPR sagte Rashid, kurze Zeit vor der Machtübernahme, also vor dem Schock, dass ein aktualisiertes Buch über die Taliban ein sehr langweiliges wäre, weil sich nicht viel verändert habe.

Ein paar Tage später, am Tag der Machtübernahme der Taliban, stellt er dann doch ein paar Unterschiede heraus: "Die jüngeren Befehlshaber sind viel stärker islamisch und radikal." Und:

"Nun, dieses Mal wird es zwar Pressefreiheit geben, aber sie wird ausschließlich von den Taliban diktiert. Die Pressefreiheit wird sich also auf Vorträge über die Scharia, das islamische Recht und andere Dinge erstrecken. Sie wird sich nicht auf eine freie Presse erstrecken."

Im Wort mit der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit

Der Asia-Times-Autor Pepe Escobar sieht das etwas anders. Einen wichtigen Unterschied erkennt er auch im Verhältnis zur al-Qaida und anderen militanten Dschihadistengruppen:

Die Taliban 2021 sind ein völlig anderes Lebewesen (i.O. "animal") als die Taliban 2001. Sie sind nicht nur kampferprobt, sondern hatten auch viel Zeit, ihr diplomatisches Geschick zu perfektionieren, was kürzlich in Doha und bei hochrangigen Besuchen in Teheran, Moskau und Tianjin mehr als deutlich wurde. Sie wissen sehr genau, dass jede Verbindung zu den Überbleibseln von Al-Qaida, ISIS/Daesh, ISIS-Khorasan und ETIM kontraproduktiv ist - wie ihre Gesprächspartner bei der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit sehr deutlich gemacht haben.

Pepe Escobar

Der Westen wird noch am neuen Gewicht der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit - SOZ - (englisch: Shanghai Cooperation Organisation, SCO) zu kauen haben, so die geopolitische Konsequenz, die Escobar schon seit längerem hervorhebt, zumal dort Iran eintreten soll. Wichtige Abkommen mit den Taliban wurden vor dem Eroberungsfeldzug der Taliban mit Russland und China geschlossen (Say hello to the Diplo-Taliban. Darüber wurde hierzulande nur kaum berichtet.

Dennoch kann man davon ausgehen, dass auch Russland und China der Lage in Afghanistan mit Wachsamkeit gegenüberstehen. Das Land mit den vielen Stämmen, Ethnien und großen lokalen Unterschieden ist nicht leicht zu regieren. Die US- und die Nato-Präsenz, die irrsinnige Dimension der Korruption, die damit einherging, sorgen zumindest für den Moment für einen Zusammenhalt unter denen, die darunter litten.

Die strikte Anti-Korruptionshaltung der Taliban und der Friede, den sie versprechen, steht der Erfahrung aus den letzten Jahrzehnten gegenüber, wie auch - im Unterschied zu den westlichen Begrenztheiten der Militärmissionen - eine längerfristige Vision: "Kämpfen für ein Emirat". Diese verlieh augenscheinlich den Taliban-Milizen anderen Einsatz- und Siegeswillen als den afghanischen Streitkräften.

Die Auswirkungen der Taliban-Eroberung reichen weit in die dschihadistischen Gruppierungen an anderen Orten der Welt hinein. Manche dort hoffen, was der Westen befürchtet - dass sich in Afghanistan nach einer Phase der Konsolidierung ein Emirat aufbauen wird, das die Basis für den großen Dschihad liefern könnte, anders als das Strohfeuer des Kalifats des Islamischen Staates.