Afghanistan-Schock: "2015 darf sich nicht wiederholen"

Die Sorge vor einem Massenexodus, Reaktionen von Macron und Laschet und eine von der Realität entfernte Wahlkampf-Diskussion?

"2015 darf sich nicht wiederholen" - der Satz, der einem Mantra gleich in den letzten Jahren immer wieder mal auftauchte, ist mit der Rückeroberung Afghanistans durch die Taliban mit neuer Wucht zurück in der Tagesdebatte. Es ist Wahlkampf. Nicht nur in Deutschland.

Dort wird der CDU-Kanzlerkandidat Laschet mit dem Mantra-Satz zitiert: "2015 darf sich nicht wiederholen. Wir brauchen einen geordneten Schutz für die, die Richtung Europa streben." Indes Der Spiegel dagegen argumentiert: "Warum sich 2015 nicht so leicht wiederholen kann".

Auf europäischer Ebene machte der französische Präsident Macron gestern einen Vorstoß, um "uns vor den großen irregulären Migrationsströmen zu schützen", die "den Menschenhandel aller Art nähren".

Europa allein könne die Folgen der aktuellen Situation nicht tragen, so Macron gestern Abend in einer über TV übertragenen Rede zur Machtübernahme der Taliban. Er betonte, dass Frankreich weiter seine Pflicht erfüllen werde, "um diejenigen zu schützen, die am meisten bedroht sind", zugleich aber machte er sich für eine "robuste Antwort" stark, um den Migrationsströmen, die nun in größerem Ausmaß aus Afghanistan erwartet werden, beizukommen.

Erwartungsgemäß entstand daraus eine aufgeregte Diskussion im Nachbarland, der Hashtag #EmmanuelLePen ist da nur die auffälligste Stichflamme, die auch von einem Tweet Edward Snowdens weitergetragen wurde.

Auch Armin Laschet äußerte sich in einer ähnlichen Richtung, ohne allerdings das Wort "robust" zu verwenden. Seine Einlassungen laufen darauf hinaus zu verhindern, dass sich die "Menschen zu Tausenden auf den Weg nach Europa und Deutschland" machen. Man müsse die UNHCR und alle humanitären Institutionen rund um Afghanistan unterstützen. Die Flüchtenden also möglichst nah in der Region halten.

Eine pauschale Öffnung für Flüchtlinge aus Afghanistan lehne er ab. Der Kanzlerkandidat plädiert für eine "Aufnahme bestimmter gefährdeter Gruppierungen aus Afghanistan", zum Beispiel Frauen, die sich "besonders engagiert" haben. Aber so sein Satz für den Wahlkampf:

Aber ich glaube, dass wir jetzt nicht das Signal aussenden sollten, dass Deutschland alle, die jetzt in Not sind, quasi aufnehmen kann. (…) Die Konzentration muss darauf gerichtet sein, vor Ort, jetzt diesmal rechtzeitig - anders als 2015 - humanitäre Hilfe zu leisten.

Armin Laschet

Diese "humanitäre Kraftanstrengung" erfordere große Ressourcen, wird der NRW-Ministerpräsident weiter zitiert. Große Ressourcen meint viel Geld für die Hilfsorganisationen und Nachbarländer Afghanistans?

Wie es der oben erwähnte Artikel im Spiegel darlegt, ist die Befürchtung einer großen Massenflucht aus Afghanistan übertrieben. Die Wirklichkeit sei eine andere. 2021 sei nicht mit 2015 vergleichbar, weil die Flüchtlinge aus Afghanistan nicht bis an die Grenzen Europas kommen.

Es beginnt damit, dass die Menschen kaum rauskommen aus Afghanistan. Die Taliban kontrollieren fast alle Übergänge an den Landesgrenzen. Fluggesellschaften steuern Afghanistan so gut wie nicht mehr an, die Botschaften stellen keine Visa aus. Viele haben sich deshalb in ihre Häuser zurückgezogen, verhalten sich so unauffällig wie möglich. Eine Flucht zu Fuß oder per Auto an die Landesgrenzen, vorbei an den neuen Checkpoints der Taliban, halten sie für zu gefährlich.

Spiegel

Bekräftigt wird diese Feststellung zum einen damit, dass die Türkei ihre Grenze zu Iran dichtgemacht habe. Der Weg über die Türkei wäre einer der Hauptwege für Flüchtlingen aus Afghanistan, um nach Europa zu kommen. Erdogans Politik sei es, derzeit keine "weiteren Flüchtlinge ins Land zu lassen, weder aus Syrien noch aus Afghanistan".

Zum anderen spreche die Erfahrung der letzten Jahre gegen die Furcht vor einer Massenflucht aus Afghanistan Richtung Europa, wie die vom Spiegel zitierte Sprecherin des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Shabia Mantoo, erklärt. Es spreche nicht viel dafür, dass an der Situation etwas "schlagartig" ändere:

Die Erzählung von einer großen Flüchtlingsbewegung nach Europa hat mit der Realität nicht viel zu tun. Seit Jahrzehnten sind Menschen wegen des Krieges und der andauernden Unsicherheit aus Afghanistan geflohen. Diese Flüchtlinge sind bisher zu 90 Prozent in Iran und Pakistan geblieben und werden dort untergebracht.

Shabia Mantoo, Sprecherin UNHCR

Dass die sich Realität und die Vorstellung, die man sich von ihr macht und die man von ihr verbreitet, sich deutlich voneinander unterscheiden, ist gerade im Fall Afghanistan in den letzten Tage schockierend klar geworden. Das Flüchtlingsthema sorgt verlässlich für große Gefühlsaufwallungen, die nun den Wahlkampf neu aufmischen. Interessant ist, dass genau zu dieser Zeit eine Studie der Universität Bielefeld veröffentlicht wird, die sich mit "Einstellungen zur Integration in der deutschen Bevölkerung von 2014 bis 2020" befasst. Die Ergebnisse der 36-seitigen Studie müssen eigens analysiert werden.

Die Schweizer NZZ fasst sie in der Überschrift in zwei Sätzen zusammen. Der eine ist etwas überraschend: Der Rückhalt in Deutschland für eine Willkommenskultur gegenüber Geflüchteten habe zugenommen. Der andere entspricht der gegenwärtigen Erfahrung beim Lesen von Medienberichten und bei privaten Gesprächen: "Gleichzeitig ist aber die Akzeptanz von kulturellen Differenzen gesunken."

Bemerkenswert ist der kurze Blick auf die aktuelle Situation:

Während der Präsentation der Studie erklärte Zick (der Studienleiter, Anm. d. A.), die wachsende Offenheit für eine Willkommenskultur korreliere nicht mehr mit der Akzeptanz kultureller Differenzen. Er sei entsetzt, wenn er - mit Blick auf die damalige Flüchtlingskrise - heute Sätze höre wie diesen: "2015 darf sich nicht wiederholen." Das sei angesichts der Lage in Afghanistan unfassbar. Es könne nicht sein, dass wir jetzt wieder unruhig würden, weil vielleicht mehr Flüchtlinge ins Land kämen. Durch die wachsende Erfahrung mit Migration gebe es in Deutschland eigentlich Anlass, ruhig zu bleiben, so Zick.

NZZ