Afghanistan: "… und wir reden schon von Frieden"

Das Tal von Kundus, Afghanistan, 2010. Bild: Dirk Haas, CC BY 2.0

Eindrücke aus einer traumatisierten Gesellschaft, Sterben und Leben in Kundus sowie der unerwarteten Angst in der Nacht. Auszug aus dem Buch "Afghanische Reise" von Roger Willemsen

Nur wenige Monate, nachdem in Afghanistan eine über 25-jährige Kriegsgeschichte zu Ende ging, begleitet Roger Willemsen eine exilierte afghanische Freundin auf ihrem Weg in die Heimat, von Kabul bis in das kriegserschütterte Kundus im Norden des Landes.

Im Ergebnis dieser Reise erschien 2006 beim S. Fischer Verlag das Buch Afghanische Reise. Willemsen beobachtet darin ein Land, das erste Schritte in den Frieden wagt.

Er spricht mit einfachen Frontsoldaten, Kommandanten und Generälen, trifft Drogenschmuggler, Nomaden und Weise, begegnet Verstörten und Traumatisierten, Menschenrechtlerinnen und Häftlingen, ehemaligen Mudschaheddin und Taliban-Funktionären, Fußballerinnen und Musikern.

Er besucht Fabriken, Märkte, Schulen und den Ältestenrat eines Dorfes, ist Gast bei einer Verlobungsfeier und inszeniert eine Kinovorführung für Frauen und Kinder. Er überquert den lebensgefährlich verminten Salang-Pass, besucht die schwer zugänglichen Dörfer der Tadschiken, trifft turkmenische Kamelhirten in der Steppe und gelangt schließlich an die Ufer des mythischen Flusses Oxus, der die Grenze Afghanistans zu Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan bildet.

"Am Ende ist Roger Willemsens Buch weit mehr als der persönliche Bericht von einer faszinierenden Reise, sondern eine literarische Betrachtung der Grundlagen allen Reisens und eine Suche nach dem Eingang in die Fremde", heißt es im Klappentext.

Willemsens Humanismus, der aus den Zeilen spricht, war keine abstrakte Einstellung, er bestimmte auf konkrete Weise sein Handeln. 2006 wurde er daher Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins e.V. mit Sitz in Hamburg. Auf seiner Internetseite heißt es: "Roger Willemsen war ein wahrer Freund des afghanischen Volkes. Dafür sind wir ihm unendlich dankbar. Er verstarb am 7.2.2016 an den Folgen einer Krebserkrankung. Sein Tod ist ein großer Verlust für Afghanistan, für Deutschland und die Welt."

Das Urheberrecht für den folgenden Auszug liegt beim S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2006.


Ockergelb erheben sich im Dunst die Bergrücken der gegenüberliegenden Seite. Das Tal scheint randvoll mit Vogelruf und Hundebellen, und manchmal ein Kind, eine Hupe, ein Blöken der Kuh oder des Kamels, alle wie zum Einklang miteinander komponiert. In den breiten Flusstälern dieses Gebietes hat sich die Sekte der Ismailiten niedergelassen.

Viele ihrer Anhänger leben heute in Pakistan und Indien. In Afghanistan aber haben sie dieses Tal zu ihrem Lebensraum gemacht und ihm ein so arkadisches Aussehen verliehen.

Der Mann betet mitten im Feld nach Osten. Hinter seinem Rücken hacken zwei grotesk aussehende Truthähne in dieselbe Richtung.

Wie unendlich weit ist der Weg, den ein kleines Mädchen, das hier ein Schaf vor sich hertreibt, gehen muss, will es in die Welt, in irgendeine Welt, und sei es die, in der dieses Mädchen uns vermutet.

Wir sind ganz behangen mit dieser Fremde, die Teil ihres Sehnens ist. Wir riechen nach ihr, wir atmen sie aus. Wir sind die Gewinner, die bloß passieren, Durchgangsmenschen, die man nie betrachten kann, weil sie in ihrem eigenen Element daherkommen, der Flüchtigkeit.

Den nächsten Flecken nennen sie "Klein Moskau". Die Straßensperren sind aus Panzerketten, in die Fundamente der Baracken wurde sowjetisches Kriegsgerät eingearbeitet, die Flüsse schwemmen Rüstungsschrott heran.

An Orten wie diesen darf man vielleicht sogar daran erinnern, dass die Kommunisten den Analphabetismus bekämpften, dass sie den Frauen mehr Rechte einräumten, dass sie den auf dem Feld und in den Fabriken Arbeitenden Bewusstsein gaben.

Man sagt, es wohnen viele Intellektuelle am Ort, das bedeutet übersetzt, Anhänger einer partiell vernünftigen, überholten, nicht lebensfähigen und vor allem: nicht afghanischen Kulturvision.

Oft hocken die Männer ganz einfach nebeneinander an der Straße, blicken stundenlang erst in die eine Richtung, dann in die andere.

Wir fühlen jeden Blick: Wer uns sieht, folgt uns mit den Augen, bis wir verschwunden sind. Wir agieren nicht plausibel, auch zieht eine unverschleierte Nadia hier mehr Blicke auf sich als ein weißer Fremder. Was wir wollen, ist nicht zu erkennen, warum wir anhalten, unsere Schritte mal in diese, mal in die andere Richtung wenden, versteht man nicht. Man betrachtet uns mit interesselosem Wohlgefallen, manchmal mit Skepsis.

Auf diesem ländlichen Markt suchen wir eigentlich nur Bolani, unsere Kartoffelteigtaschen mit scharfer Füllung. Doch weil der Andrang der Schaulustigen, lauter halbwüchsige Ex-Soldaten, zu stark wird, und Mirwais sich Sorgen um unsere Sicherheit macht, müssen wir abbrechen.

Auch haben sich die Blicke der erwachsenen Männer verfinstert. Nicht ohne Missgunst sehen manche in uns wohl weniger das, was wir tun, als vielmehr, wohin wir zurückdürfen.

Das Kino in Kundus

Nadia erzählt von dem Kundus ihrer Jugend, von den Tänzen und Spielen, dem Picknick in der blühenden Steppe, den Ausgrabungen buddhistischer Relikte nebenan. Aber erst, als sie auf die Pferdekutschen kommt, mit ihren rot ausgeschlagenen Polstern, den Federbüschen auf den Köpfen der Tiere und dem Schellenklang in den Straßen, muss sie unterbrechen und wendet ihre überfließenden Augen in die Landschaft, so hilflos vor der eigenen Vergangenheit, wie nur der ist, dem sie genommen wurde.

Nadia erzählt auch von dem Kino in Kundus, das einst ihre Welt war, ein altes Theater mit Balkon und breiter Cinemascope-Leinwand, das den Krieg überstand. Vierhundert Besucher hätten hier heute Platz.

"Erwarte nicht zu viel. Es ist alt und kaputt und hat gelitten."

Vor Jahren haben die Taliban auch dieses Kino ganz schließen wollen, aber Turab, der geschickte Verwalter, bot ihnen einen Kompromiss an: halb Kino, halb Arztpraxis.

Also schloss man den Vorführraum und erklärte ihn zur Praxis. Da aber eigentlich die Taliban den ganzen Saal in ihre Moschee integrieren wollten, sprachen sie wieder vor und stellten Turab die tückische Frage:

"Was willst du haben, ein Kino oder eine Moschee?"

"Beides."

Für den nächsten Tag wird er erneut einbestellt, schickt aber sicherheitshalber einen Vertreter. Der berichtet von dicken Stöcken, die schon wartend in einer Ecke gelehnt hätten.

Noch am selben Abend flieht Turab in einem klapprigen Flugzeug nach Kabul.

Khaled, der am Steuer des Wagens sitzend zugehört hat, fragt mich nicht ohne Hintergedanken:

"Und du: Würdest du eine Moschee wollen oder ein Kino?"

"Beides."

"Gleichermaßen?"

"Beide formen Menschen."

Er denkt nach. Es ist die "Gebt-dem-Kaiser-was-des-Kaisers-ist"-Antwort. Dann sagt er:

"Stimmt, im Kino haben wir gelernt, wie man einen Krieg führt, wie man einen Sprengsatz legt, solche Sachen..."

Das Gewitter verzieht sich.

Schon in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts schrieb Robert Byron: "Laut Volksmund ist die Reise nach Kundus praktisch Selbstmord." Andere sagten, man komme "nach Kundus zum Sterben". Sie sprachen der Sümpfe und Moskitos, der Skorpione und Schlangen wegen so.

Später drehte der indische Filmstar Feroz Khan in der hiesigen Steppe, und Omar Sharif und Jack Palance spielten hier The Horsemen. In der Folge kamen ein paar europäische Prominente und gekrönte Häupter hierher, und so prägte man bald den Satz: "Willst du leben, komme nach Kundus."

Heute wirkt Kundus, der geschundene Ort, kompakt, auch erwachend, auch rückwärtsgewandt mit seinen Kamelen und Pferdekutschen, seinen alten Stallungen und Marktvierteln für Gewürze, Textilien, Trockenobst oder Fleisch.

Der Krieg hat seine Spur durch den Ort gezogen, und doch sind alte Fassaden noch intakt, das Gebäude der Spinzar-Baumwollproduktion, die Nadias Vater leitete, existiert noch, alte Bäume stehen in den Höfen, und etwas Koloniales liegt in der Luft.

.

Afghanische Reise

Roger Willemsen

272 Seiten

S. Fischer

E-Book: 9,99 Euro

Taschenbibliothek: 10 Euro

Taschenbuch: 11 Euro

Gebundene Ausgabe: 16, 90 Euro