Afghanistan: "… und wir reden schon von Frieden"
Seite 2: Der Hof neben der Koranschule
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Doch ist der Hof der Kindheit, in dem Nadia so frei wie behütet aufwuchs, kahl und ramponiert. Ein paar Sträucher noch, auch Rabatten, aber der Swimming Pool wurde zugeschüttet, die Bäume hat man gefällt, nur die Außenfassade mit dem halbrunden Treppenaufgang und der kleinen Veranda scheint unverändert.
Hier hat man damals in heißen Sommernächten den Boden mit Plüschkissen und Matratzen ausgelegt. Die Mädchen tranken Tee mit Kardamom und betrachteten den Sternenhimmel, während die Tante die Liebesgeschichten von Laili und Majnun ausbreitete, jede Nacht eine Folge.
Nadias Mädchenschule lag damals neben einer Religionsschule. Die hohen Mauern um das liberale Familienleben stießen fast an die hohen Mauern des islamischen Lerninstituts. Doch keine der Mauern war hoch genug.
"Wir haben uns immer über ihre Papageiensprache lustig gemacht", sagt Nadia über die Koranschüler, "weil sie doch immer alles nachbeteten. Einmal hat sich eine von uns sogar in deren Bibliothek getraut und hat dort ein Aufklärungsbuch studiert. So wurden wir peu à peu nach diesem Buch aufgeklärt."
"Bist du sicher, dass du alles richtig weißt?"
Abends kommen wir aus dem Gästehaus, wo wir Männer schlafen, in das Haupthaus mit den Zimmern für Frauen und Kinder. Im dortigen Salon mit seinen roten Plastikstühlen unter den gekreuzten Hellebarden und dem Foto von einem deutschen Wald werden jeden Abend Gelage abgehalten.
Turabs Frau ist im neunten Monat schwanger, zeigt sich, isst aber in der Küche. Die anderen Frauen bleiben in den hinteren Räumen.
Mirwais, Khaled, ein anderer Verwalter, Cousins und weitläufige Verwandte sind fast immer da, andere geben sich die Klinke in die Hand. Wir essen den köstlichsten Palau-Reis mit den geradesten Körnern, dazu Ragout, Kebab, Kichererbsen, Eier.
"Dies ist ein Ei von einem Taliban-Huhn", meint einer."
"Warum heißen die so?"
"Weil sie frei rumlaufen."
Danach bunte Götterspeisen, Puddings, die nach Rosenwasser schmecken, bleiches Gebäck.
Nadia erzählt von den Fahrten in die Steppe, als sie damals nach Norden reisten zum Oxus, dem sagenumwobenen Grenzfluss.
"Vater hat an diesem Fluss gestanden, der Grenze nach Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan und hat gesagt: Irgendwann kommen die Russen."
"Das hat man uns in Deutschland auch gesagt", erwidere ich.
"Aber bei uns sind sie wirklich gekommen."
Thema ist die Kinovorführung.
"Versprecht euch nicht zu viel", meint Turab, der sein Kino kennt.
"Rechnet mal mit dreizehn Personen, vielleicht auch weniger."
"Es ist gratis", protestiert Mirwais leise. "Das Haus wird aus den Fugen brechen."
Aber wie sollen die Richtigen von unserem Film erfahren? Mundpropaganda.
"Ich gehe auf die Straße und spreche die Frauen an!", sagt Nadia. Früher hätten wir das mit Kutsche, Plakat und Trommel gemacht. Aber das gibt es alles nicht mehr."
Begeben wir uns also auf die Höhe der Zeit: Ein Fernsehspot muss her, geschaltet im regionalen Kanal von Kundus. Die anderen entwerfen einen Text auf Dari, der mir anschließend übersetzt wird: "Ein deutscher Humanist und Afghanistanfreund ..."
"Halt, da muss ‚gratis‘ drüber. Das mal zuerst", fordert Turab.
"Muss es 'Humanist und Afghanistanfreund' heißen?"
"Wir können deinen Namen nicht nennen. Namen sind zu gefährlich!"
"Dann den Beruf!"
"Dann werden sie ihn sofort entführen wollen."
"Aber Humanist?"
"Das ist gut, das versteht niemand."
"Also gut: 'Gratis! Ein deutscher Humanist und Afghanistanfreund lädt alle Frauen und Kinder von Kundus ein, um 14 Uhr einen Kinderfilm und einen indischen Film anzusehen.' Und dann noch mal 'gratis'!", fordert Turab, sagt aber nach einer Pause noch einmal: "Ich tippe auf dreizehn Besucher."
Kundus offenbart sich
Nadia hat eine ganze Armada von Frauen im Kopf, die alle auf ihre Befreiung warten, also kommen werden, und außerdem die gute Nachricht ganz schnell empfangen, weil sie gleich persönlich allen Frauen von dieser Vorstellung berichten wird.
Die nächsten Verhandlungen betreffen den Projektor, der erst aus einer fernen Provinz herangeschleppt werden muss, und die Auswahl des "Frauenfilms". Nadia und ich plädieren für einen Bollywood-Schinken mit süßlicher Musik, prachtvollen Bildern und sanftmütiger Liebe. Es geht nicht um Bewusstseinsveränderung im Film, sondern durch den Film, also eigentlich bloß durch die Tatsache, dass er läuft.
Die Traumatisierung der Kinder, der Jugendlichen, bricht sich überall Bahn. Schiedsrichter werden verprügelt, das Mobiliar in der Schule wird zerstört, von scheinbar unmotivierten Gewaltausbrüchen erzählen alle, die Kontakt mit Jugendlichen haben.
Vielleicht setzt das Kriegsende eine große Blase der Gewalt frei, und sie platzt nun in einer lange angestauten afghanischen Katharsis.
Nachdem wir eine Weile gesessen haben, ziehen sich die Männer in das Gästehaus zurück. Einer der Verwandten kommt vorbei und bröselt etwas klebrigen schwarzen Afghanen in die hohle Hand.
Dann wandert er in die leere Papierhülse einer Filterzigarette und wird an der Spitze zusammengedreht. Ich bekomme die Zigarette zur guten Nacht, und es passiert etwas Unerwartetes.
Der Rauch ist stark und würzig, er brennt nicht im Mund, nicht in der Lunge, er hebt meinen inneren Zustand, verdichtet ihn, aber plötzlich passiert, was seit dem Kiffen meiner Schulzeit nicht mehr passiert ist: Angst materialisiert sich.
Angst, die über die Straße heranrollt, durch den Hof kommt, aus den Wänden tritt, über meinem Lager zusammenschwappt.
Plötzlich ist jede Angst, die sich in dieser Stadt je befunden hat, zielgerichtet und bei mir. Sie hat keine genießbare Seite und erlaubt auch kein Abschweifen. Vielmehr meint sie es ernst, als Einschüchterung, als Bedrohung.
Wenn Orte auch geronnene Erfahrung sind, wenn sie sich zusammensetzen aus allem, was je in ihnen gefühlt wurde, dann ist diese Angst eine Art Offenbarung.
Kundus gibt sich zu erkennen. In das Weichbild der Stadt haben sich Bombenabwürfe und Raketenbeschuss, Vergewaltigungen, Folter und Morde eingedrückt. Heckenschützen haben gelauert, Späher haben Häuser auf der Suche nach Versteckten durchsucht, Marodierende haben zerstört, Soldatentrupps haben Bauwerke gestürmt und verwüstet, Frauen haben geschrien, Kinder das Weite gesucht.
Jede denkbare Konstellation kann sich wiederholen. Es ist alles noch zu frisch. Die Gewalt ist nicht Vergangenheit, ist nicht archaisch, nicht Kultus. Sie ist nur für ein paar Tage nicht hierhergekommen, und wir reden schon von Frieden.
Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich- Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne.