Afrin: Den Krieg in die Nato-Länder tragen

Seite 2: Das "aussichtsreichste revolutionäre Projekt unserer Generation"

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Die politischen Bekenntnisse sind an manchen Stellen nachvollziehbar - mit ausdrücklicher Sympathie für die "kurdische Freiheitsbewegung" und dem Vorwurf, dass hinter dem Kampf gegen die YPG/PYD auch der Versuch steht, "eine selbstbestimmte Alternative aus radikaler Demokratie, Frauenbefreiung, wirklicher Gleichheit der Geschlechter und Sozialer Ökologie" zu zerstören.

Mit Pathos wird nicht gespart: "der Angriff auf Afrin ist der Versuch das aussichtsreichste revolutionäre Projekt unserer Generation zu zerstören", "die Revolution von Rojava ist nicht nur die einzige bedeutende emanzipatorische Perspektive im Mittleren Osten, sondern auch weltweit einer der letzten verbliebenen Hoffnungsschimmer im Kampf um eine andere Welt".

Nimmt man den idealistischen Anspruch ernst, so mag das stimmen und beflügeln. In Wirklichkeit hat das kurdische Projekt, wie der interessante Erfahrungsbericht von Aymenn Jawad Al-Tamimi über einen Besuch in Qamishli, in der nordsyrischen Provinz Hasakah - im Kanton Jazeera - Ende Januar in Details zeigt auch viele gewohnte politische Elemente aus der Nahost-Wirklichkeit.

Die Revolution findet in kleinen Schritten statt, man arrangiert sich mit Gegebenheiten, was sich auch in der pragmatischen Zusammenarbeit der "autonomen Verwaltung" mit der Regierung in Damaskus an mehreren Beispielen zeigt und noch prosaischer darin, dass die "autonome Verwaltung" nichts dagegen hat, sondern darauf baut , dass von der Zentralregierung Gehälter überwiesen werden. Die Infrastruktur wäre ohne syrischen Staat ein Riesenproblem für die autonome Kantons-Regierung, die auch keine unumstrittene Regierung ist.

Allerdings - und das ist etwas Besonderes in der Region und Lichtjahre von der Kultur und Politik entfernt, die Erdogan im Schlepp hat: Die Kritik, die Aymenn Jawad Al-Tamimi von den politischen Gegnern der autonomen Verwaltung zitiert, ist sachlich, moderat, nicht militant. Das gibt es nur, wenn die Verwaltung ihrerseits entsprechend arbeitet. Man braucht nur auf Scharia-Gerichte in anderen syrischen "Verwaltungszonen" zu verweisen, um zu veranschaulichen, wie sehr sich dieses Modell abhebt.

Der wunderschöne Kampf

Die Wirklichkeit, wie sie Aymenn Jawad Al-Tamimi beschreibt, ist weit entfernt von der Bilderbuch-Revolutionsromantik im Aufruf.

Wie keine andere Revolution der letzten Jahrzehnte hat uns Rojava inspiriert, uns gezeigt wie radikal und wunderschön der Kampf um die Befreiung einer Gesellschaft sein kann. Der heldenhafte Widerstand von YPG und YPJ in Kobani und die Selbstorganisierung der Bevölkerung unter Initiative der sich selbst befreienden Frauen zog tausende Linke, Anarchist*innen, Sozialist*innen und Feminist*innen in ihren Bann.

fight4Afrin

Der wunderschöne Kampf? Wo fand der statt? In Syrien?

Auch die PKK-nahe NAV-DEM erklärte zu den Solidaritätsdemonstrationen für Afrin: "Nur mit friedlichem Protest können wir unserem Anliegen dienen."

Keiner sollte sich auf Provokationen, während der Demonstrationen einlassen. Auch jegliche Formen von gewaltsamen Aktionen lehnen wir entschieden ab und verurteilen sie.

Selbstverständlich sind wir alle durch die Bilder, die uns aus Afrin erreichen, emotional betroffen. Und selbstverständlich sind wir auch wütend über das Schweigen der internationalen Staatengemeinschaft zu diesem völkerrechtswidrigen Krieg.

Aber unser Ziel muss es bleiben, die Öffentlichkeit für das, was derzeit in Afrin passiert, zu sensibilisieren. Das können wir nur erreichen, indem wir mit möglichst vielen Menschen friedlich auf die Straßen gehen und den Druck gegen die Kriegstreiber und ihre Unterstützer erhöhen. Deshalb lasst uns stark, laut und entschlossen auf den Straßen bleiben.

NAV-DEM, Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland

Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ruft ebenfalls dazu auf, bei Demonstrationen friedlich zu bleiben; auch der kurdischen Politiker Salih Maslem Mohamed sprach sich dagegen aus, den ganz und gar nicht wunderschönen Krieg noch weiter zu tragen. "Unser Kampf ist demokratisch und für die Demokratie, wir sollten die demokratischen Gesetze in den Ländern, die unsere Leute beherbergen respektieren."

Warnung vor Provokationen

Der PKK-nahe kurdische Dachverband KCDK-E warnt demgegenüber vor "geplanten Provokationen" bei den europaweit stattfindenden Solidaritätsaktionen für Afrin. "Uns liegen Informationen und Dokumente vor, die auf Pläne verweisen, bei Aktionen kurdischer Einrichtungen in Europa verschiedene Provokationen oder gewalttätige Angriffe durchzuführen, mit denen die Efrîn-Solidarität kriminalisiert und die öffentliche Sympathie und Unterstützung für den Widerstand in Efrîn ins Gegenteil verkehrt werden sollen.“