Afrin: Den Krieg in die Nato-Länder tragen

Protest in Berlin wegen Afrin-Offensive. Bild: Screenshot Video/RT/YouTube

Anschläge auf Moscheen und türkische Einrichtungen - im Netz mobilisieren Radikale für Aktionen, die den Krieg "dorthin zurücktragen, wo er gebilligt wird"

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"Afrin braucht 100 Prozent friedliche Solidarität", sagt Kemal Sido. Die Betonung liegt auf friedlich, da der Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker von Telepolis auf einen Aufruf angesprochen wurde, der in nicht weniger als acht Sprachen ankündigt, "den Krieg dorthin zurück(zu)tragen, wo er gebilligt, unterstützt, legitimiert und produziert wird".

Geht es nach dem vorhergehenden Satz im Aufruf, so sind die Nato-Länder gemeint. "Der türkische Angriff gegen Afrin ist ein von der NATO politisch, wirtschaftlich und militärisch getragener Stoß ins Herz unserer revolutionären Kämpfe, Träume und Hoffnungen", steht auf der Webseite fight4afrin. Der Appell, den Krieg aus Nordsyrien an andere Orte zu tragen, verbreitete sich am Wochenende in den sozialen Netzwerken, zum Beispiel in Frankreich. "Wenn Afrin fällt … , wird es zu spät gewesen sein!", lautet die Überschrift.

Ermöglicht wird dies(der Angriff auf Afrin, Anm. d. A.) durch den massiven Einsatz modernster NATO-Technologie wie Kampfjets, Artillerie, Panzern und Drohnen. Der faschistisch-islamistische Angriffskrieg gegen Afrin ist nicht nur der Versuch Erdogans die kurdische Freiheitsbewegung zu zerstören; während Russland der türkischen Luftwaffe die Tür öffnet und das syrische Assad-Regime de facto untätig zuschaut, unterstützt die NATO diesen Krieg aktiv mit nachrichtendienstlichen Informationen, militärischer Technologie, Waffen und Munition aus westlichen Fabriken.

fight4afrin

Den Aufruf gibt es außer auf Deutsch und Französisch noch in Englisch, Spanisch, Italienisch, Griechisch, Polnisch und in Türkisch. Mit welchen Mitteln der Krieg nach Europa gebracht werden soll, bleibt im Aufruf selbst offen. Es soll etwas kosten und knallen:

Wir werden die Kosten für diejenigen, die von diesem Krieg profitieren hochtreiben. Wir werden diejenigen zur Verantwortung ziehen, die den Mord an Zivilist*innen gutheißen und als vermeintlichen "Krieg gegen den Terror" legitimieren. Und wir werden die betäubte europäische Öffentlichkeit aufhorchen lassen, unsere Gesellschaften daran erinnern das wir alle eine Verantwortung für tragen, was die Regierungen in unserem Namen geschehen lassen.

fight4afrin

An anderer Stelle präzisiert die Webseite, wie Aktionen aussehen, die als "direkt und solidarisch mit dem Widerstand" bezeichnet werden. Weit über 50 Aktionen werden aufgelistet, die bis zum 21. Januar, also einen Tag nach Beginn der türkischen Militäroperation "Olivenzweig", zurückreichen.

Aktionen - "politisch motivierte Straftaten"

Für den gestrigen 11.März werden allein sechs Anschläge angeführt; fünf in Deutschland und einer in Griechenland: auf die türkische Botschaft in Thessaloniki. Bei den Anschlägen in Deutschland wird auch der Brandanschlag auf eine Ditib-Moschee in Berlin-Reinickendorf genannt, der laut Berliner Zeitung "fast zeitgleich" stattfand wie ein Brandsatzanschlag auf eine Moschee in der Pankower Allee/Ecke Kühleweinstraße in Reinickendorf, auf das "Gebäude des Vereins im nordrhein-westfälischen Meschede" und auf Fenster "eines Moschee-Gebäudes in Itzehoe in Schleswig-Holstein".

Ein Anschlag in Meschede auf ein Vereinsheim der Grauen Wölfe taucht auch in der Liste des Blogs "fight4Afrin" auf.

Die Polizei geht im Fall des Brandanschlags auf die DITIB Koca Sinan Camii/Moschee Berlin, bei der die 100 Quadratmeter große Gebetsstätte im Erdgeschoss eines Wohnhauses vollständig ausbrannte, "von einer politisch motivierten Straftat" aus. Ditib ist so eng mit der Regierung Erdogan verknüpft, dass die Organisation mit seinem Namen für sich wirbt.

In Großbritannien blockierten am gestrigen Sonntag hundert Demonstranten die Gleise am Piccadilly-Bahnhof in Manchester, um gegen den türkischen Angriff auf Afrin zu protestieren: "Stop Turkey from helping ISIS terrorists". Der Bahnhof war für drei Stunden gesperrt.

Diese Aktion wird beim Blog fight4Afrin nicht aufgelistet; dessen Reichweite ist nicht klar, ebenso wenig, wie der Zusammenhang mit den Aktionen, die aufgelistet werden, genau aussieht. "Bekenntnisse" sind das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht.

Die sind eher hier: Auf anderen Webseiten brüstet man sich mit weiteren Anschlags-Aktionen und konkreten Videos. Eine "kurdische Jugendinitiative" spricht ausdrücklich davon, den Krieg in Afrin "auf Europas Straßen zu tragen".

Das "aussichtsreichste revolutionäre Projekt unserer Generation"

Die politischen Bekenntnisse sind an manchen Stellen nachvollziehbar - mit ausdrücklicher Sympathie für die "kurdische Freiheitsbewegung" und dem Vorwurf, dass hinter dem Kampf gegen die YPG/PYD auch der Versuch steht, "eine selbstbestimmte Alternative aus radikaler Demokratie, Frauenbefreiung, wirklicher Gleichheit der Geschlechter und Sozialer Ökologie" zu zerstören.

Mit Pathos wird nicht gespart: "der Angriff auf Afrin ist der Versuch das aussichtsreichste revolutionäre Projekt unserer Generation zu zerstören", "die Revolution von Rojava ist nicht nur die einzige bedeutende emanzipatorische Perspektive im Mittleren Osten, sondern auch weltweit einer der letzten verbliebenen Hoffnungsschimmer im Kampf um eine andere Welt".

Nimmt man den idealistischen Anspruch ernst, so mag das stimmen und beflügeln. In Wirklichkeit hat das kurdische Projekt, wie der interessante Erfahrungsbericht von Aymenn Jawad Al-Tamimi über einen Besuch in Qamishli, in der nordsyrischen Provinz Hasakah - im Kanton Jazeera - Ende Januar in Details zeigt auch viele gewohnte politische Elemente aus der Nahost-Wirklichkeit.

Die Revolution findet in kleinen Schritten statt, man arrangiert sich mit Gegebenheiten, was sich auch in der pragmatischen Zusammenarbeit der "autonomen Verwaltung" mit der Regierung in Damaskus an mehreren Beispielen zeigt und noch prosaischer darin, dass die "autonome Verwaltung" nichts dagegen hat, sondern darauf baut , dass von der Zentralregierung Gehälter überwiesen werden. Die Infrastruktur wäre ohne syrischen Staat ein Riesenproblem für die autonome Kantons-Regierung, die auch keine unumstrittene Regierung ist.

Allerdings - und das ist etwas Besonderes in der Region und Lichtjahre von der Kultur und Politik entfernt, die Erdogan im Schlepp hat: Die Kritik, die Aymenn Jawad Al-Tamimi von den politischen Gegnern der autonomen Verwaltung zitiert, ist sachlich, moderat, nicht militant. Das gibt es nur, wenn die Verwaltung ihrerseits entsprechend arbeitet. Man braucht nur auf Scharia-Gerichte in anderen syrischen "Verwaltungszonen" zu verweisen, um zu veranschaulichen, wie sehr sich dieses Modell abhebt.

Der wunderschöne Kampf

Die Wirklichkeit, wie sie Aymenn Jawad Al-Tamimi beschreibt, ist weit entfernt von der Bilderbuch-Revolutionsromantik im Aufruf.

Wie keine andere Revolution der letzten Jahrzehnte hat uns Rojava inspiriert, uns gezeigt wie radikal und wunderschön der Kampf um die Befreiung einer Gesellschaft sein kann. Der heldenhafte Widerstand von YPG und YPJ in Kobani und die Selbstorganisierung der Bevölkerung unter Initiative der sich selbst befreienden Frauen zog tausende Linke, Anarchist*innen, Sozialist*innen und Feminist*innen in ihren Bann.

fight4Afrin

Der wunderschöne Kampf? Wo fand der statt? In Syrien?

Auch die PKK-nahe NAV-DEM erklärte zu den Solidaritätsdemonstrationen für Afrin: "Nur mit friedlichem Protest können wir unserem Anliegen dienen."

Keiner sollte sich auf Provokationen, während der Demonstrationen einlassen. Auch jegliche Formen von gewaltsamen Aktionen lehnen wir entschieden ab und verurteilen sie.

Selbstverständlich sind wir alle durch die Bilder, die uns aus Afrin erreichen, emotional betroffen. Und selbstverständlich sind wir auch wütend über das Schweigen der internationalen Staatengemeinschaft zu diesem völkerrechtswidrigen Krieg.

Aber unser Ziel muss es bleiben, die Öffentlichkeit für das, was derzeit in Afrin passiert, zu sensibilisieren. Das können wir nur erreichen, indem wir mit möglichst vielen Menschen friedlich auf die Straßen gehen und den Druck gegen die Kriegstreiber und ihre Unterstützer erhöhen. Deshalb lasst uns stark, laut und entschlossen auf den Straßen bleiben.

NAV-DEM, Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland

Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ruft ebenfalls dazu auf, bei Demonstrationen friedlich zu bleiben; auch der kurdischen Politiker Salih Maslem Mohamed sprach sich dagegen aus, den ganz und gar nicht wunderschönen Krieg noch weiter zu tragen. "Unser Kampf ist demokratisch und für die Demokratie, wir sollten die demokratischen Gesetze in den Ländern, die unsere Leute beherbergen respektieren."

Warnung vor Provokationen

Der PKK-nahe kurdische Dachverband KCDK-E warnt demgegenüber vor "geplanten Provokationen" bei den europaweit stattfindenden Solidaritätsaktionen für Afrin. "Uns liegen Informationen und Dokumente vor, die auf Pläne verweisen, bei Aktionen kurdischer Einrichtungen in Europa verschiedene Provokationen oder gewalttätige Angriffe durchzuführen, mit denen die Efrîn-Solidarität kriminalisiert und die öffentliche Sympathie und Unterstützung für den Widerstand in Efrîn ins Gegenteil verkehrt werden sollen.“