Aladin: Vom französischen Märchen zum amerikanischem Klischee

Seite 2: Aladin - ein chinesischer Schneidersohn

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Aber egal wie viel französischer Einfluss in der Geschichte steckt, schlussendlich handelt die Story von einem muslimisch-arabischen Jungen. Oder doch nicht? Um festzustellen, dass auch Aladins Identität diverser ist, als es die Kritiker einer Cultural Appropriation wahrhaben wollen, reicht es schon, die ersten Zeilen der Geschichte zu lesen:

In einer großen Stadt Chinas lebte ein armer Schneider namens Mustafa. - Durch sein Gewerbe verdiente er kaum so viel, dass er mit seiner Frau und seinem Sohne leben konnte. Dieser Sohn, Aladin mit Namen, war ein Tunichtgut.

Tausendundeine Nacht

Es gibt viele Diskussionen darüber, an welche Region Chinas Antoine Galland wohl gedacht haben mag, als er Aladin zum Chinesen machte. Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass sich Galland wohl keinen Han-Chinesen aus dem Osten des Landes vorstellte. Eher schon einen Bewohner der muslimischen Provinz Xinjiang. Zur Vollständigkeit muss auch erwähnt sein, dass Aladins chinesische Wurzeln im weiteren Verlauf der Geschichte kaum noch eine Rolle spielen. Die Erzählung ist stattdessen voll mit Versatzstücken aus dem Alltagsleben arabischer Länder. Dennoch: Ein Araber ist Aladin nicht.

Aladdin - ein Straßenjunge aus Indien

Schlussendlich muss man wohl annehmen, dass auch die Einforderer größerer kultureller Sensibilität ihr Aladin-Bild nicht aus den Geschichten von Tausendundeiner Nacht haben. Eher schon aus dem 1992 erschienenen Zeichentrickfilm von Disney. Dass sie nun die "authentische" und kultursensible Wiedergabe einer Fiktion fordern, die wiederum selbst nur die Adaption einer anderen Fiktion ist, macht die Sache an sich schon reichlich absurd. Aber lassen wir uns darauf ein und fragen: Wie müsste ein Hauptdarsteller aussehen, um der in Disneys Aladdin wiedergegeben "Kultur" möglichst authentisch Rechnung zu tragen.

Statt irgendwo im unbestimmten China spielt Disneys Aladdin in der fiktionalen Stadt Agrabah. Eine Stadt, die es gewohnt ist, zu ernst genommen zu werden: Vor anderthalb Jahren - zurzeit des Trumpschen Präsidentschaftswahlkampfes - forderten in einer Umfrage über 30 Prozent der befragten Republikaner, Agrabah zu bombardieren. Die Forderung wäre zumindest teilweise im Einklang mit der realen US-Nahostpolitik, schließlich sollen Disneys Zeichner unter anderem die iranische Stadt Isfahan und die Hauptstadt des Irak Baghdad zu ihren künstlerischen Einflüssen gezählt haben.

Doch schon ein Blick auf Disneys Version des Sultanpalastes reicht aus, um zu erfahren, welche Stadt die Zeichner vor allem im Sinn hatten: Die Hauptstadt des einstigen Mogulreiches und Ort des weltberühmten Taj Mahal, Agra. Und die liegt heute wie damals nicht im Middle East, sondern in Indien. Das wiederum mag auch erklären, warum die weitaus meisten Aladin-Verfilmungen aus Bollywood stammen.

Aladdin - Tom Cruise mit MC Hammer-Hose

Bleibt zuletzt noch Aladdin selbst, also Disneys Version mit Doppel-D. Selbst wenn es sich im französischen Original um einen Chinesen handeln sollte, stellt doch zumindest der Zeichentrick-Aladdin einen authentischen Araber dar. Oder? Leider auch nicht.

In seinem 1997 erschienen Buch "Disney's Art of Animation: From Mickey Mouse to Hercules" verriet der Walt Disney-Biograph Bob Thomas einmal, dass die Zeichner sich ihre Inspirationen vor allem von amerikanischen Teenie-Idolen jener Zeit holten. Aladdins weite Pumphosen hatte man sich beispielsweise beim Rapper MC Hammer abgeschaut. Und auch sein sonstiges Aussehen orientierte sich nicht an arabischen Straßenjungen, sondern vor allem am amerikanischen Schauspieler Tom Cruise.

Die deprimierende Gewissheit für alle, die Aladdin bisher für ein authentisches Abbild einer Middle Eastern Culture hielten: Disneys Aladdin ist nur nicht einem westlichen Orient-Klischees, sondern auch noch einem lebenden Hollywood-Klischees nachempfunden. Daran kann auch ein ägyptischer Hauptdarsteller nichts ändern.

Stattdessen zeigt die Geschichte von der französisch-chinesisch-indisch-arabischen-amerikanischen Patchwork-Figur Alad(d)in, was den Gegnern einer vermeintlichen "Cultural Appropriation" auch in anderen Zusammenhängen entgegengehalten wird: Es gibt keine voneinander abgetrennten Kulturräume.

Und wer anderen Trivialisierungen und kulturelle Abwertung vorwirft, sollte zuvor seine eigenen kulturellen Klischees reflektiert haben. In diesem Sinne haben die Produzenten zumindest für den Drehort der Aladdin-Realverfilmung einen wirklich authentischen Schauplatz gefunden: Ein Produktionsstudio in der Multikulti-Stadt London.