Aleppo: Die letzten Gefechte der Milizen

Seite 2: "150.000 Menschen sehen ihrer Auslöschung entgegen"

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Heute Morgen meldeten die sieben Uhr-Nachrichten des BR, dass der russische Außenminister Lawrow von einer Waffenpause gesprochen habe, dass aber weitergekämpft werde. Jeder, der sich im Sound der öffentlich-rechtlichen Syrien-Nachrichten eingerichtet hat, weiß, wie das zu bewerten ist: Es liegt an al-Assad und Putin wieder einmal.

In der Tagesschau wird das nüchtern behandelt, läuft aber auf einen ähnlichen Effekt hinaus. Russlands Außenminister Lawrow habe gestern Abend die Hoffnung auf eine Waffenpause geschürt. Tatsächlich geschehe folgendes:

Nach Informationen von Aktivisten gingen die Kämpfe in der Nacht jedoch weiter. Es gebe noch immer Gefechte zwischen Regimekräften und oppositionellen Milizen, hieß es. Auch Einwohner der Rebellenviertel in Ost-Aleppo berichteten von Artilleriebeschuss und Jets am Himmel. (…)

Ein Sprecher der Rebellenmiliz Nur al-Din al-Sinki erklärte, das Regime und Russland versuchten, die Nachricht von einer Waffenruhe zu verbreiten. Tatsächlich gebe es weiterhin Angriffe aus der Luft und mit Artillerie.

Tagesschau

Anschließend wird der Chef der UN-Hilfsmission für Syrien, Jan Egeland, damit zitiert, dass eine Feuerpause dringend erforderlich sei, damit bis zu 500 kranke und verletzte Kinder Ost-Aleppo verlassen könnten. Derzeit, so die Wiedergabe Egelands durch die Tagesschau, "liefen flüchtende Zivilisten Gefahr, ins Kreuzfeuer der Kriegsparteien zu geraten oder von Heckenschützen getroffen zu werden".

Am Ende des Berichts wird darauf verwiesen, dass der syrische Machthaber Baschar al-Assad zuletzt Forderungen nach einer Waffenruhe zurückgewiesen habe. Immerhin wird die Begründung Assads auch kurz wiedergegeben. Die USA fordere nur deshalb einen Waffenstillstand, "weil die von Washington unterstützten Rebellen 'in einer schwierigen Lage' seien".

Wer die Tass-Meldung mit den Äußerungen Lawrows liest, erfährt, dass die syrische Armee die Kämpfe in Ost-Aleppo für den gestrigen Tag eingestellt hatte, um 8.000 Zivilsten evakuieren zu können. Das sei eine größere Operation und benötige eine Rückzugsroute von 5 Kilometern. Das hatte die Tagesschau gestern auch gemeldet, aber aus der heutigen Meldung wurde der Zusammenhang der Einstellung der Kämpfe mit der Evakuierung nicht mehr erwähnt.

Einseitige Berichterstattung

Dafür wurde der stark gewichteten Forderung Jan Egeland viel Platz eingeräumt. Aus dessen Darstellung, die wie stets kranke und verletzte Kinder ins Herz der Öffentlichkeit hinein paradieren lässt, geht hervor, dass ein lokaler Politiker davor gewarnt habe, dass "150.000 Menschen ihrer Auslöschung entgegen" sehen.

Selbst wenn das verbleibende kleine Gebiet in Aleppo unter der Kontrolle der Dschihadisten sehr dicht besiedelt ist, ist angesichts der Zahlen der bisher aus Ost-Aleppo Geflüchteten, die in höheren Schätzungen zwischen 30.000 und 40.000 liegen - und der Zahl von 80.000 Befreiten, die von einem russischen Regierungsvertreter geäußert wurden -, kaum damit zu rechnen, dass so viele Menschen dort leben. Und: Ihr Leben hängt vom Willen der bewaffneten Milizen ab.

Zwei Gruppen werden in diesem Zusammenhang erwähnt. Nour e-Din a-Zinki hält die Stellung, laut einem Bericht des mit den Gegner Assads sympathisierenden Mediums Syriadirect.

Deren Sprecher beschreibt die Taktik der syrischen Armee als "Zerteilen der einkreisten Gebiete in immer kleinere Sektionen" und macht nicht den Anschein, als ob es Mittel gegen diese Taktik gebe. Der einzige Trumpf, den sie noch in der Hand haben, ist die Zivilbevölkerung. Damit kann man Druck machen, wie dies zum Beispiel Jan Egeland tut (ohne aber deutlich zu machen, dass Zivilisten weiter festgehalten und an der Flucht gehindert werden).

Ein humanistischer Appell ist im Krieg, wo Unmenschlichkeit ihre Fratze erhebt, bitter notwenig. Er wäre allerdings sehr viel überzeugender, wenn er nicht politisch derart gewichtet wird wie im Fall Aleppo oder Syrien. Die UN betreibt PR für "die Rebellen", sie nutzte sie ("Aktivisten", lokale Politiker, White Helmets") als Quellen für Nachrichten, die dann, weil sie von der UN weitergeleitet werden, als seriös gelten.

Als ein Beispiel für eine unseriöse Wiedergabe der Geschehnisse in Aleppo soll erwähnt werden, dass in den Aufrufen und UN-Lageberichten zwar stets das Grauen der syrischen und russischen Kriegshandlungen offenkundig wird, aber dass die Wasserversorgung völlig in den Händen der bewaffneten Besatzermilizen lag, ist kein Wort wert.

Mit dieser Informationspolitik, die sich völlig auf Angaben von Gruppen und Politikern verlässt, die mit den Besatzern zusammenarbeiten, verspielt man Vertrauen in eine Institution, die unabhängig sein muss.

Lawrow: Streit mit USA über al-Nusra

Die zweite Miliz, die den Kampf gegen die Regierungstruppen aufrechterhält, ist die wichtigere, nämlich die al-Nusra-Front. Geht es nach dem russischen Außenminister Lawrow, so gibt es hier erneut Unstimmigkeiten zwischen den USA und Russland, gegenseitige Vorwürfe und unterschiedliche Ansätze. Am Samstag sollen sich Vertreter der USA und Russland in Genf zu Gesprächen treffen.

Was Ahrar al-Sham und andere Milizen vorhaben, ist unklar. Die Informationslage gibt dazu nicht viel her. Laut Kreml-Sprecher Peskow sollen "nur wenige" Kämpfer Milizen die Kampfzonen verlassen haben, die meisten seien noch da.

Zuletzt gab es Zeitungsberichte, die kolportierten, dass Milizen, möglicherweise auch al-Nusra-Vertreter, back-door-deals mit Russland anstrebten. Möglicherweise sind die 8.000 Zivilisten, von denen Lawrow sprach, ein solcher Deel, aber das ist reine Spekulation. Als sicher gilt, dass Milizen Fluchtwege in den Norden Aleppos verhandeln wollten. Dort ist die Türkei nicht weit, damit wäre die Versorgungslage besser.

Der aktuelle Angriff der türkischen Armee auf al-Bab lässt aufscheinen, dass vielleicht auch noch mehr "Zusammenarbeit" möglich gewesen wäre. Aber Russland und Syrien verweigern sich diesen Wünschen ihrer bewaffneten Gegner. Sie sollen nach Idlib. Dort ist der nächste Kriegsschauplatz.

Indessen ruft der letzte "belagerte" Journalist in Ost-Aleppo im Namen der Dschihadiisten um Hilfe aus den Golfstaaten.