Aleppo: US-Regierung sträubt sich gegen den russischen Sieg

Al-Nusra-Kämpfer in der Artillery School/ Aleppo, August 2016. Propagandafoto

Das gemeinsame Abkommen zum Abzug der Milizen wird hinausgezögert. Als Grund werden Verhandlungen mit Rebellen angeführt. Indessen zerlegen sich mit dem Fortschreiten der Wiedereroberung manche Mythen

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Die Verhandlungen zwischen den USA und Russland über den Abzug von Milizen aus Aleppo stehen auf der Kippe. Der russische Außenminister Lawrow teilte bei einer Pressekonferenz mit, dass die USA Gespräche in Genf abgesagt, ihren bisherigen Vorschlag zurückgezogen und ein neues Dokument vorgelegt hätten.

Das neue Dokument kippe "nach unseren ersten Eindrücken" alles um, so Lawrow laut einer Mitteilung von Sputnik News. Es sehe eher wie ein Versuch aus, sich mehr Zeit zu erkaufen, "damit die Kämpfer Atem schöpfen und ihre Vorräte auffüllen können".

Inkongruenzen

Ein Bericht der Washington Post ergänzt die Aussagen Lawrows noch mit dessen Bewertung, dass "seriöse Gespräche mit unseren Partnern nicht funktionieren". Der russische Außenminister sieht eine Inkongruenz zwischen dem als positiv eingeschätzten Dokument, das Kerry vergangene Woche unterbreitet hatte, und dem Verhalten der US-Vertreter in der UN.

Diese hatten eine Resolutionsvorlage im Sicherheitsrat unterstützt, die eine siebentägige Waffenruhe in Aleppo vorschlug. Russland wie auch China legten ihr Veto ein. Russland hatte zuvor schon erklärt, dass es mit dem Vorschlag, nicht einverstanden ist, weil die Feuerpause den Milizen in Ost-Aleppo die Möglichkeit gebe, sich neu zu formieren und aufzurüsten. Erst müsste der Abzug der Milizen nach einem genau festgelegten Zeit-und Wegeplan geregelt und vereinbart werden, dann könne eine Feuerpause angeordnet werden.

Das Dokument, das Kerry dem russischen Außenminister vergangene Woche in Rom überreichte, war anscheinend auch in diesem Sinne verfasst. Die erste Reaktion aufseiten Russlands war positiv. Betont wurde wie immer, dass die USA und ihre Verbündeten dafür zu sorgen hätten, ihren Einfluss durchzusetzen, so dass auch alle Gruppen abziehen, welche die USA als nicht-terroristisch einstuft. Jede Miliz, die sich weiter in Aleppo aufhalte, gelte als Terrorbande, die bekämpft werde, kündigte Lawrow an.

Die Washington Post zitiert nun Kerry mit der Aussage, dass er sich weiterhin mit Lawrow treffen will, am Donnerstag beim OSZE-Treffen in Hamburg.

Über Verhandlungen zwischen amerikanischen und russischen Vertretern in Genf verlor er kein Wort. Einer Reuters-Meldung ist zu entnehmen, dass dazu innerhalb der US-Regierung wenig Bereitschaft gab. Es wurde nichts vereinbart, man wolle sich auch nicht in die Karten schauen lassen, so eine ungenannte Quelle aus US-Regierungskreisen. "We’re not going to negotiate this publicly."

Der Fall von Aleppo

Die Schwierigkeit der USA liegt klar vor Augen. Kerry teilte mit, dass man noch in Verhandlungen mit den Milizen stehe. Dem fügte er eine bemerkenswerte Äußerung hinzu. Der Außenminister sagte, er hoffe, dass man Russland davon überzeuge, wie wichtig Verhandlungen sind, statt die Situation weiter anzuheizen - " … mit dem Fall von Aleppo".

Das kann man so verstehen: Russland soll die Wiedereroberung Aleppos nicht leichtgemacht werden. Es geht einmal um die Rettung möglichst vieler Milizen, welche die USA selbst oder indirekt unterstützt haben - und es geht ums Prestige. Die Wiedereinnahme Aleppos ist zuallererst ein Sieg Russlands in der geostrategischen Konflikt zwischen Russland und den USA. Der Erfolg der syrischen Armee und ihrer verbündeten Bodentruppen, ist demgegenüber nachrangig.

Nach jüngsten Nachrichten, die sich auf Angaben von SOHR berufen, von der Tagesschau oder noch ausdrücklicher von Reuters ist genau von diesem "großen Sieg" in Aleppo die Rede. Der Widerstand breche immer mehr zusammen, die syrischen Regierungstruppen Truppen hätten die "gesamte Altstadt Aleppos unter Kontrolle gebracht", meldete die Tagesschau unter Berufung der den Rebellen nahestehende Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte.

Das deckt sich mit Entwicklungen der letzten Tage, die anderswo genauer geschildert werden. Bei der Reuters-Meldung, die mit dem bevorstehenden "größten Sieg im syrischen Krieg" titelt, ist noch nicht von einer vollständigen Eroberung der Altstadt die Rede. Dort heißt es, dass ein "Rebellen-Vertreter" sagte, man werde Aleppo nicht aufgeben. Zitiert wird auch ein ungenannter US-Vertreter mit den Worten: "Aleppo fällt, aber der Krieg geht weiter."

In Washington will man die Niederlage nicht eingestehen. Und Moskau will den Sieg in Aleppo unbedingt. Das ergibt keinen großen gemeinsamen Nenner für erfolgreiche Verhandlungen zum Abzug der Milizen, zumal in den letzten Tagen mehrere Milizen erklärten, dass sie für einen solchen Abzug nicht bereit sind. Bei der al-Nusra-Front, welche ihre Hegemonie unter den Umstürzlern in Ostaleppo seit 2013 ausgebaut hatte, steht der Abzug ohnehin nicht zur Debatte.

Ungeachtet dessen, was Kerry und Lawrow, später soll auch Steinmeier dazu stoßen, in Hamburg vereinbaren können oder wollen, zeichnet sich ab, dass parallel zur Rückeroberung Aleppos ein paar Mythen demontiert werden, die die Berichterstattung in westlichen Medien geprägt haben.

Mythos: 350.000 Zivilisten in Ost-Aleppo

Es wäre überraschend, wenn sich in den nächsten Wochen herausstellte, dass in Ost-Aleppo tatsächlich über 300.000 Zivilisten gelebt haben. Manche Schätzung mit Berufung auf die UN lagen bei 350.000 Einwohner.

Die bisherigen Zahlen derjenigen, denen in der jüngsten Zeit die Flucht aus Ost-Aleppo gelungen ist, liegen bei etwa 20.000 (Elijah J. Magnier und OCHA). Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums nannte kürzlich die Zahl von 80.000 Bewohner Aleppos, die befreit wurden.

Nach Schätzungen des französischen Syrien-Experten Fabrice Balanche sollen sich Ende November ungefähr 10.000 Milizen in Ost-Aleppo aufgehalten haben:

Die Al-Nusrah-Front (aka Jabat Fatah al-Sham) hat 1.500 bis 2.000 Männer, Ahrar al-Sham, ihr wichtigster Partner in der Jaish-al-Fatah-Koalition hat ungefähr 2.000 Kämpfer. Es bleiben 6.000 Kämpfer von der Fatah al-Haleb-Koalition, die mit der FSA verbunden ist, aber sich als unfähig erwiesen hat, unabhängige Operationen durchzuführen.

Fabrice Balanche

Zählt man diese Zahlen alle zusammen, so käme man auf eine Größenordnung von etwa 120.000, die sich in den letzten Wochen und Monaten in Ost-Aleppo aufgehalten haben. Exakt sind die Zahlen freilich nicht, es sieht aber gegenwärtig nicht danach aus, als ob der Abstand zu den 350.000, die bislang angegeben wurden, jemals mit seriösen Belegen gefüllt werden könnte.

Bislang in der Berichterstattung unterschlagen, dass viele der ehemaligen 350.000 Einwohner schon sehr früher aus Ost-Aleppo geflohen sind. Möglicherweise müssen auch die Beweggründe dazu revidiert werden. Wurde bislang wie ein Fakt behandelt, dass frühere Fluchtwellen ursächlich mit der "Bombardierung der eigenen Bevölkerung durch Assads" zu tun haben, so zeigt sich langsam auch in der deutschen Berichterstattung das Bild, dass die Bewohner in der hegemonialen Herrschaft der Dschihadigruppen seit 2013 Motive genug fanden, um das Weite zu suchen (vgl. dazu etwa den Bericht der Washington Post vom Juni 2013 über einen 14-Jährigen, der in Ost-Aleppo mit dem Tod bestraft wurde, weil er angeblich den Islam beleidigt hatte. Die Führung des Shura-Rates hatte damals schon die al-Nusra-Front inne).

Kriegslogik, Darstellung und opportune Maßstäbe

Die Luftangriffe auf Aleppo (die "Bombardierung") waren eine Reaktion des Regierung auf al-Nusra und Co. Dass sie brutal waren und auch auf Kosten der Zivilbevölkerung gingen, wird anders, als es in Kommentaren unterstellt wird, hier nicht bestritten. Sehr wohl aber die Logik der im Westen verbreiteten oder üblichen Berichterstattung. Dort wurde der Krieg der syrischen Regierung gegen Milizen falsch dargestellt und wird es noch. Unterschlagen wurde bei den "Rebellen", dass sie einen syrischen Dschihad führen, dass sie die Regierung gewaltsam stürzen wollen und dass sie Ost-Aleppo als Besatzungsmacht unterworfen hatten.

Von ernsthaften politischen Vorschlägen war von dieser "Opposition" seit Jahren nicht mehr die Rede. Die dominierenden Gruppen - allen voran die Nusra-Front und Ahrar al-Sham - setzten auf die militärische Lösung, unterstützt von Saudi-Arabien, der Türkei, Katar und Finanziers aus anderen Golfstaaten, die unmissverständlich die Absetzung Baschar al-Assads forderten zugunsten religiöser Gruppen, von denen sie glaubten, dass sie sie kontrollieren könnten.

Für die Doppelmoral, die dem Westen vorgeworfen wird, gibt es faktisch Nachweise. Man muss sich aktuell nur die Aussagen von Boris Johnson zu den saudi-arabischen Bombenangriffen im Jemen vor Augen führen, um zu sehen, dass Opfer unter der Zivilbevölkerung nach dem Prinzip "je nachdem" bedauert werden. Wenn die Angreifer im Verständnis des Westens einen "gerechten Krieg" führen, nämlich weniger.

Also spielt die Darstellung des Krieges eine große Rolle. Wie sich herausstellt, haben die Golfstaaten kräftig in westliche Think Tanks investiert, zum Beispiel mit 29 Millionen Pfund in das International Institute for Strategic Studies (IISS), wie der Guardian berichtet. Dessen jüngste Interpretation des Krieges in Syrien lautet, dass Baschar al-Assad eine größere Bedrohung darstellt als der IS.

Die Liste der interessengesteuerten Berichterstattung lässt sich bis zu Kindern fortsetzen, die als Schaupuppen missbraucht werden, um in der "seriösen Erwachsenenwelt", zum Beispiel in der Tagesschau, von der Hölle in Aleppo zu berichten, vor einer echten Kulisse, aber ohne jeden Hintergrund zu erhellen. Es ging lediglich darum, den Hass auf die Regierung in Damaskus und deren Unterstützer zu schüren. Setzt die politische Aufklärung nun auf das Kind in uns?