Allein gegen den Rest Europas
Beim EU-Gipfel in Brüssel hat sich Merkel ins Abseits manövriert. Im Streit mit Italien und Spanien hat sie aber keine großen Kompromisse gemacht - die Sorge vor einem "Ausverkauf" Deutschlands ist unbegründet
Der EU-Gipfel ist zu Ende, die Legendenbildung fängt an. Kanzlerin Angela Merkel habe Deutschland verkauft, eine allgemeine Schuldenhaftung für Italien und Spanien eingeführt, den Rettungsschirm ESM heimlich umgemodelt und überhaupt alle "roten Linien" verraten, schallt es aus einem vielstimmigen Chor.
Falsch. Merkel hat einige rote Linien überschritten, aber sie hat niemanden verraten oder gar verkauft. Sie hat sich verrechnet, und zwar gründlich, und musste dafür einen Preis zahlen: sechs Stunden Nachsitzen im ungemütlichen Ratsgebäude in Brüssel. Sie wurde unter Druck gesetzt, von Italiens Premier Mario Monti, von Spaniens Mariano Rajoy, ein bisschen auch von Frankreichs Francois Hollande. Aber sie hat die Brieftasche nicht aufgemacht, auf diesem Gipfel wurden keine neuen Hilfen beschlossen.
Was ist passiert? Politisch sehr viel. Zum ersten Mal gab Merkel nicht die Agenda vor, sondern sie war in der Defensive. Zum ersten Mal hatte sie Frankreich nicht sicher an ihrer Seite, sondern Paris spielte ein doppeltes Spiel, manchmal auch den Vermittler. Zum ersten Mal spielten Italien und Spanien so, wie sonst Deutschland und Frankreich gespielt haben: Hardball. Wir machen nur mit, wenn ihr Euch auch bewegt, war im Kern die Botschaft von Monti und Rajoy. Das wird Spuren hinterlassen, vor allem in Brüssel.
Monti war wild entschlossen, auf diesem Gipfel einen Beschluss zu erzwingen. Zur Not würde er bis Sonntagabend in Brüssel bleiben, hatte er schon vor seiner Abreise aus Rom verkündet. Monti hatte sich sogar mit Rajoy und Hollande abgesprochen. Gemeinsam, so der Plan, würde man Merkel "kurzfristige Maßnahmen" abringen.
"Sind wir nun alle Geiseln?"
Denn ohne neue Beschlüsse, so die Sorge der drei Südländer, würden die Anleger erst Spanien, dann auch noch Italien abstrafen und den Euro in Not bringen. "Soll die ganze Währungsunion in die Luft fliegen, nur weil wir uns nicht einigen können?", fragte empört ein Regierungschef eines Mittelmeer-Landes. Nein, das könne und dürfe nicht sein. Der Streit um die Spreads kocht hoch.
Doch Merkel stellt sich taub. Als sie zu anderen Themen übergehen will, kommt es zum offenen Aufstand. Am Donnerstag gegen 19 Uhr geht es los, die Chefs wollen gerade ihren ersten Beschluss verkünden: die Einigung auf den Wachstumspakt. Für Merkel soll dies der Höhepunkt des Abends werden, sie kündigt sogar eine Pressekonferenz an.
Doch Monti bekommt einen Wutanfall, weil immer noch keine Hilfen für Spanien und Italien beschlossen wurden. Der Italiener droht mit seiner Abreise und damit, den Wachstumspakt platzen zu lassen. Daraufhin soll es laut geworden sein. Nicht nur Monti, auch der sonst einschläfernd ruhige Ratspräsident Herman Van Rompuy seien aus der Haut gefahren, berichten EU-Diplomaten. "Sind wir nun alle Geiseln?", fragt die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt.
Vielleicht hätte sie besser Merkel fragen sollen. Denn Montis Drohung zielt auf die Kanzlerin. Merkel bekommt den Fiskalpakt im Bundestag nur dann durch, wenn vorher, beim EU-Gipfel, auch der Wachstumspakt beschlossen wird. Das weiß natürlich auch Monti - er spielt nun Hardball mit der Kanzlerin.
Italien hat gewonnen
Ergebnis: Merkel sagt ihr Pressegespräch ab, das Abendessen wird auf später verschoben, die Debatte geht weiter - und Monti bekommt seine EU-Hilfen. Allerdings wird erstmal Fußball geguckt.
Als fest steht, dass Italien die Euro 2:1 gewonnen hat, geht es wieder um den Euro. Merkel gibt sich noch nicht vollständig geschlagen und versucht ein letztes Mal, das Spiel zu wenden.
Sie drängt Van Rompuy, vor die Presse zu treten und eine Einigung beim Wachstumspakt zu verkünden - eine glatte Lüge. Schließlich blockiert Monti weiter, auch Rajoy hat sich nun wie geplant der Fronde angeschlossen. Hollande empfiehlt, besser bei der Wahrheit zu bleiben. Van Rompuy windet sich, die Presse bekommt Wind von dem Streit, nun gibt es kein Zurück mehr. Die 17 Euro-Länder beraumen eine Nachtsitzung ein, die anderen zehn EU-Chefs ziehen sich erschöpft in die Hotels zurück. Um halb fünf Morgens steht der Deal - Italien hat gewonnen.
Künftig soll der Euro-Rettungsfonds italienische oder spanische Staatsanleihen ankaufen können, um die Kurse zu stützen und die Zinsen zu senken. Die Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit würde so verringert, die Märkte würden beruhigt. Zwar gab es diese Möglichkeit bisher auch schon - doch nur unter strikten Bedingungen. Sie wurden in der Chaos-Nacht von Brüssel gelockert - oder präzisiert, je nachdem, wen man fragt.
Für Monti steht fest, dass er nun Hilfe anfordern kann, ohne dass die gefürchtete Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und internationalem Währungsfonds in Rom einrückt und die Kontrolle übernimmt. Merkel hingegen stellt den Deal hinterher so dar, dass auch diese Hilfe strikter Kontrolle unterliegt. "Es ist nicht so, dass es keine Konditionen gibt", stellt sie nach Ende des Gipfels klar.
Und richtig: Es gibt Konditionen, sogar ziemlich viele. Fangen wir mit Italien an. Monti kann nicht, wie er zunächst hoffte, auf eine automatische Intervention der Eurogruppe auf dem Anleihemarkt hoffen, wenn die Zinsen in gefährliche Höhen klettern. Er muss einen Antrag stellen, und den muss die Eurogruppe einstimmig annehmen. Dann wird ein "Memorandum of Understanding" ausgearbeitet, das auf dem Länderbericht der EU-Kommission beruht. Was die Brüsseler Behörde an Sparmaßnahmen und Reformen fordert, wird Gesetz, mit einem strikten Zeitplan. Erst danach kann das Geld für die Marktintervention fließen.
Nur ein symbolischer Sieg
Monti hat zwar Recht, dass ihm nicht die internationale Troika an den Hals geworfen wird. Italien muss sich keinem erniedrigenden "Anpassungsprogramm" des IWF unterwerfen. Aber das liegt vor allem daran, dass der IWF bei Marktinterventionen ohnehin nicht mitmacht. Zuständig sind EU-Kommission und EZB, und die werden Italien dann an die Kandare nehmen. Das einzige Zugeständnis ist, dass die Spar- und Reformvorgaben nicht verschärft werden - man übernimmt einfach das, was die Kommission ohnehin schon gefordert hat. Monti hat nur einen symbolischen Sieg errungen, nicht mehr, nicht weniger.
Nun zu Spanien. Da werden die tollsten Geschichten erzählt, auch von den Spaniern. Zum Beispiel die, dass die spanischen Banken nun direkt vom ESM und damit vom deutschen Steuerzahler gerettet werden. Unsinn. Zwar kann der ESM künftig direkte Hilfen an Banken zahlen, wobei es sich natürlich um Kredite handelt, nicht um verlorene Zuschüsse. Hier hat Merkel ihre rote Linie überschritten - bisher hatte sie Direkthilfen ausgeschlossen.
Doch die Kanzlerin setzte durch, dass dies erst möglich ist, wenn die Eurozone eine zentrale Bankenaufsicht hat, und wenn das Empfängerland dafür Bedingungen erfüllt, die die Eurogruppe überprüft. Der Bundestag wird also zweimal abstimmen können: bei der Einrichtung der Bankenaufsicht und bei der Genehmigung von Direkthilfen. Letztlich wird das deutsche Parlament damit mächtiger als das spanische, von den EU-Abgeordneten ganz zu schweigen: Die haben nämlich gar nichts zu melden.
Die Rechtslage hat sich kaum verändert, aber das Kräftespiel
Keine Änderung soll es beim bevorzugten Gläubigerstatus des ESM geben. Vielmehr ist für Spanien eine Sonderregel geplant: Das Land soll seine Hilfskredite für den Bankensektor noch aus dem alten EFSF bekommen, und die haben keinen besonderen Status. Wenn dann der ESM kommt, soll diese Einstufung einfach übernommen werden. Damit will man erreichen, dass Investoren sich nicht plötzlich aus Spanien zurückziehen, weil sie fürchten, ihre Investitionen würden nur noch zweitrangig behandelt. Das macht angesichts der laufenden Kapitalflucht aus Spanien durchaus Sinn.
An der Rechtslage hat sich also nicht viel verändert. Im Grunde hat Montis Powerplay nur bewirkt, dass die ohnehin schon vorhandenen Regeln präzisiert wurden. Nötig wäre aber eine Änderung gewesen. Der ESM braucht dringend mehr Kapital, um die Märkte glaubwürdig von neuen Attacken abschrecken zu können. Österreich forderte denn auch eine Banklizenz für den Rettungsschirm, konnte sich jedoch nicht durchsetzen.
Was sich verändert hat, ist die politische Großwetterlage. Plötzlich gibt Südeuropa den Ton an, und nicht mehr Deutschland. Plötzlich kann Paris den Vermittler zwischen Nord und Süd, Klein und Groß spielen - und nicht mehr Berlin. Und plötzlich hat Merkel fast die gesamte EU gegen sich. Denn schon im Vorfeld des Gipfels hatte sie sich eindeutig gegen den "Masterplan" der vier EU-Chefs Van Rompuy, Barroso, Draghi und Juncker zur Euro-Reform positioniert. Allein gegen vier Chefs und drei große Euroländer (Frankreich, Italien, Spanien) - das konnte nicht gut gehen.
Die interessante Frage ist nun, welche Konsequenzen Merkel aus dieser Niederlage zieht. Wenn sie weiter "allein gegen alle" spielt, könnte Deutschland am Ende tatsächlich an den Rand gedrängt werden - nach dem Motto: Ihr dürft zahlen, habt aber sonst nichts zu melden. Wenn sie es hingegen versteht, die EU und/oder die Südländer einzubinden, kann sie ihre verlorene Hegemonie wiederherstellen.
Mit Hollande habe sie sich sehr gut verstanden, "es hat Spaß gemacht", bekannte sie am Ende des Gipfels. Und Hollande kündigte an, nun seinerseits den Fiskalpakt ratifizieren zu wollen. Deutet sich da eine neue deutsch-französische Entente an?