Alleingang: Mali wirft Blauhelme aus dem Land
Mit der Annahme der neuen Verfassung durch ein Referendum ist Mali auf dem Weg zur Demokratie. Zugleich isoliert es sich mit dem Rausschmiss der UN-Mission Minusma weiter vom Westen.
Die letzte Woche des Junis 2023 brachte das Ende eines langen Kapitels, der militärischen Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen (UN), und den Beginn eines neuen: eine neue Verfassung, und damit ein teilweise reformiertes politisches System, wurde durch ein Referendum angenommen. Der Entwurf wurde mit 97 Prozent nahezu einstimmig angenommen. Mit 39,4 Prozent lag die Wahlbeteiligung nicht besonders hoch, jedoch kaum unter dem Wert der letzten Präsidentenwahl 2018, an der sich auch nur 42,7 Prozent der registrierten Wahlberechtigten beteiligten.
Die 2020 während der Pandemie stattfindende Parlamentswahl, die wegen nachträglichen Änderungen durch den Obersten Gerichtshof zu Massenprotesten führten, hatte eine noch niedrigere Beteiligung von 35,6 Prozent. Zudem boykottierten die vormals rebellischen Tuareg-Organisationen, die seit dem Waffenstillstandsabkommen die Autorität über die nördlichen Provinzen ausüben, das Referendum.
In diesen Regionen, Kidal, Gao und Timbuktu, kam es denn auch zu mehr Übergriffen auf Wahlbüros und Wahlhelfer. Doch auch in anderen Regionen, zum Beispiel im Kreis Niono in der zentral gelegenen Provinz Segou, gab es bewaffnete Überfälle auf Wahllokale und Entführungen von Wahlhelfern.
Vorige Regierungen hatten den Prozess für eine neue Verfassung wegen der schlechten Sicherheitslage in dem von verschiedenen dschihadistischen Gruppen heimgesuchten Land stets verschoben. Obwohl nach der französischen Militärintervention, die 2013 ebenfalls von einer Putschistenregierung eingeladen worden war, neben den Franzosen auch Soldaten aus den Nachbarstaaten im Rahmen der G5-Sahel und eine internationale Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen die malischen Streitkräfte unterstützten, weiteten die Islamisten ihre Operationsgebiete aus.
Seit dem letzten Putsch konnte die neue Administration die Macht der Zentralregierung jedoch zumindest in den zentralen und südlichen Regionen wieder festigen und den Aktionsradius der Dschihadisten einschränken, wie auch die jüngsten UN-Berichte belegen.
In westlichen und beispielsweise auch türkischen Medien, wo die malische Übergangsregierung seit ihrer Annäherung mit Russland nie gut wegkommt, wird stark kritisiert, dass die neue Verfassung ausgeweitete Rechte für den Präsidenten vorsieht: Dieser kann nun, statt einen Premier zu ernennen, der die Regierungspolitik bestimmt, diese selbst bestimmen, während der Premier diese nur noch realisiert.
Außerdem kann der schon immer direkt gewählte Präsident nun auch das Parlament auflösen und Neuwahlen anordnen. Obwohl eine solche Machtkonzentration in den Händen einer Person für das deutsche Publikum zurecht fragwürdig erscheint – mit der hiesigen Geschichte sind mehr "Checks" und "Balances" der schnellen und effizienten Regierungsfähigkeit vorzuziehen, darf nicht vergessen werden, dass diese Rechte in Präsidialsystemen wie denen der USA oder Frankreichs, welchem Malis politisches System am meisten gleicht, gängig sind.
Eine andere Kritik, die hingegen durchaus berechtigt erscheint, ist, dass der Übergangspräsident Assimi Goita sich, entgegen seiner Versprechungen nach seinem ersten Putsch, die Möglichkeit schuf, selbst für das Präsidentenamt zu kandidieren. Diese unter afrikanischen Putschisten gängige Salamitaktik könnte in seinem Falle sogar aufgehen, denn er erfreut sich großer Beliebtheit in der Bevölkerung.
Zuspruch der Massen, Gegenwind von Parteien, Bewegungen und Tuareg
Die Militärregierung unter Oberst Assimi Goita, der im Jahr 2020 nach Massenprotesten den vorherigen Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta (IBK) absetzte und zuerst alle internationalen Militärmissionen erhalten wollte, dann im Jahr 2021 jedoch erneut gegen die von ihm eingesetzte Regierung putschte und sich von Frankreich und Europa entfernte und stärker mit Russland kooperierte, verteidigte die längere Übergangszeit und den verfassungsgebenden Prozess stets, obwohl sie dem Land und dem Regime Sanktionen von der Regionalorganisation ECOWAS, Frankreich und anderen westlichen Ländern einbrachte.
Auch die Versammlungen des Nationalen Dialogs für die Neugründung der Republik, offene Versammlungen in verschiedenen Städten und Provinzen, in denen Bürger*innen ihre Meinungen kundtun konnten, empfohlen die Verschiebung der zuerst auf Frühjahr 2021 angesetzten Wahlen und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, um die Kandidaturen von außerhalb der als korrupt wahrgenommenen etablierten Parteien und Eliten zu ermöglichen.
Es ist deswegen kaum verwunderlich, dass die politischen Parteien das Referendum nahezu durchweg verurteilten. Doch auch innerhalb der politischen Kräfte und Bewegungen, die für eine Erneuerung des politischen Systems sind, traf die Initiative der Übergangsregierung nicht nur auf Zuspruch.
Die Bewegung des 5. Juni – Sammlung der patriotischen Kräfte (M5-RFP), die die Proteste gegen die Regierung von IBK im Jahre 2020 organisierte und anführte, hat sich über die Zeit seit dem Putsch aufgespalten: Teile unterstützten den Putsch und die Militärregierung, Teile kritisieren ihn. Direkt nach dem Putsch hatte sich die Bewegung noch recht geschlossen über die Nichteinladung zur Konferenz über die Zukunft Malis beschwert und dem Übergangsrat wegen seiner militärischen Überrepräsentation die Legitimität abgesprochen.
Mit dem zweiten Putsch konnte die Regierung Teile der Bewegung kooptieren. Choguel Kokalla Maïga, einer der Wortführer der Gruppe, wurde Premierminister und Gruppen wie Yérèwolo, die schon vorher die Abkehr vom Westen hin zu Russland propagierten, genießen nun die Gunst der Regierung. Andere, besonders der Präsident des malischen Teils der linken, panafrikanischen Organisation "Partei der afrikanischen Solidarität für Demokratie und Unabhängigkeit" SADI, Oumar Mariko, wurden dagegen massiver Repression ausgesetzt.
Teile des strategischen Komitees der Bewegung, dem bekannte Persönlichkeiten und auch ehemalige Minister angehören, benannten sich im August 2022 zu M5-RFP Mali Kura (zu Deutsch: Neues Mali) um und kritisieren den Übergang des Militärs und ihres ehemaligen Mitstreiters und lehnten auch das Referendum ab.
Der bekannte Prediger Mahmoud Dicko, der in vielen europäischen Medien, als Anführer stilisiert, nahezu alleinstehend gezeigt und zitiert wurde, ist aus der Bewegung ausgetreten. Auch er lehnte, zusammen mit verschiedenen Imamen und Islamgelehrten, das Referendum wegen der Artikulation einer säkularen Republik ab.
Andere wichtige Kontrahenten des Referendums und des Kurses der Übergangsregierung sind die die Tuareg-Organisationen und -Milizen, die, wie eingangs erwähnt, zum Boykott des Referendums aufriefen und in zumindest einigen der von ihnen kontrollierten Provinzen auch keine Teilnahme zuließen, wie die Wahlbeobachter der COCEM feststellten.
Der Konflikt zwischen den Tuareg und der Übergangsregierung verschärft sich nun seit längerem wieder. Erstere zogen sich vor Monaten aus dem Verfassungskonvent zurück, weil sie die Abmachungen aus dem Waffenstillstandsabkommen in Algiers bezüglich der Dezentralisierung und Autonomierechten für ihre Gegend nicht gewahrt sahen. Mit Flügen von Kampfjets über Stellungen der Tuareg und Warnschüssen dieser aus Flugabwehrkanon kam es im April zu militärischen Drohgebärden von beiden Seiten.
Die autoritäre Konfrontation der Übergangsregierung gegenüber den Tuareg und den politischen Parteien, die beide oft als von Frankreich unterstützt dargestellt werden – und dies teilweise wohl auch sind, aber auch gegen politische Bewegungen und Personen, die eine andere Version des Neuen Malis sehen, wird in einer Studie des Instituts für Strategieforschung französischen Militärs und wohl auch von Teilen der Bevölkerung als Mali Fanga beschrieben. Fanga bedeutet je nach Kontext Autorität, Gewalt oder auch Krieg.
Das Institut beschreibt damit auch das zunehmend robustere Vorgehen gegen die Dschihadisten seit dem Ankommen der "Militätberater" der russischen Wagner Söldner – welches die Bevölkerung jedoch größtenteils unterstützt, wie das Institut selbst schlussfolgert. Dies berichtet zum Beispiel auch der deutsche Publizist Olaf Bernau aus Gesprächen mit Vertretern der Zivilgesellschaft in Mali auf einer zweiwöchigen Delegationsreise Anfang dieses Jahres.
Fanga statt internationale Zusammenarbeit?
Auch der Mitte Juni angekündigte Rauswurf der UN-Mission Minusma, die den UN-Sicherheitsrat nun am 30. Juni zur offiziellen Ankündigung des Abzugs bis Ende des Jahres drängte, lässt sich in dieses Schema des Fanga einordnen. Westliche Kommentatoren führen die Entscheidung hauptsächlich auf den offen geäußerten Unmut über die Untersuchungen und Berichte der Mission Minusma in und über eine Militäraktion des letzten Jahres, bei der die malischen Streitkräfte zusammen mit Wagner Söldnern im Dorf Moura ein Massaker an rund 500 Personen begangen haben.
Die malische Regierung besteht darauf, dass es sich ausschließlich um Terroristen handelte. Doch selbst wenn dem so wäre, stellt dies Kriegsverbrechen dar, da es sich wohl größtenteils um Exekutionen Kriegsgefangener handelt. Dazu kommen Anschuldigungen der Folter und von rund 60 Vergewaltigungen über fünf Tage, in denen die malischen Sicherheitskräfte zusammen mit ihren weißen Verbündeten das Dorf besetzten.
Die malische Regierung nennt den Bericht eine Hetzkampagne gegen sie und ihre Verbündeten und kündigte laut dem Bericht des UN-Generalsekretariats Ermittlungen wegen militärischer Spionage an. Sie behauptet, es wäre nur ermittelt worden, weil es sich um russische und nicht westliche Verbündete handelte. Zu ähnlichem Vorgehen mit europäischen Verbündeten hätte sich die Minusma nicht geäußert. Dafür spricht, dass Frankreich im UN-Sicherheitsrat zu diesen Ermittlungen drang.
Doch ganz stimmt die Anschuldigung jedenfalls nicht. Denn als französische Kampfhubschrauber im Januar 2021 eine Hochzeitsgesellschaft der ethnischen Minderheit Peul/Fulbe nahe dem Dorf Bounti attackierten und dabei auch hauptsächlich Zivilisten tötete, wurde eine solche Fact-Finding Mission der Minusma eingesetzt. Diese kam zudem ebenfalls zu dem Schluss, dass 19 Zivilisten unter den 22 Getöteten waren.
Auch Frankreich hat seine Position, hierbei nur Terroristen getötet zu haben, nicht revidiert. Strafrechtliche Folgen haben auch die französischen Soldaten nicht zu befürchten. Auch andere zivile Opfer, deren Zahl laut des Armed Conflict Location & Event Data (ACLED) Projekts die offiziellen französischen Angaben von sieben Zivilisten um mehr als das siebenfache übersteigt, haben keine große Chance auf Gerechtigkeit und Entschädigung.
Trotzdem scheint die malische Übergangsregierung durchaus auf robusteres Vorgehen zu setzen und auch der jüngste UN-Bericht bestätigt, dass die gesunkenen Zahlen der zivilen Opfer durch islamistische Gewalt im Zentrum des Landes teilweise darauf zurückzuführen sei. Für solches robusteres Vorgehen bezog die Regierung Helikopter und Kampfjets von Russland, während Frankreich solche Technik stets nicht verkaufen, sondern nur in Eigenregie durch Unterstützungstruppen zur Verfügung stellte, sowie gepanzerte Fahrzeuge von China.
Die Bevölkerung unterstützt dies größtenteils und das Narrativ, die französische Unterstützung über die Jahre hätte nicht gegen die Islamisten geholfen, sondern deren Ausbreitung befördert, wird bestätigt – und damit auch der "Rausschmiss" Frankreichs, der eigentlich nur ein gesichtswahrender war, da Macron seinen Abzug ankündigte, bevor Mali sich Russland zuwandte. Denn nicht nur in Mali, auch in Frankreich war die Popularität der Militärmission nach steigenden Verlusten und Skandalen wie dem in Bounti stark gesunken.
Der Mission Minusma erging es nun ähnlich. Seit sie von der jetzigen Regierung aus Abwehr gegen Kritik als Instrument des westlichen Blocks dargestellt wurde, sank ihre Popularität in der Bevölkerung massiv und der populistischen Regierung scheint es opportun, sie nun loszuwerden und ihre Autorität im Alleingang zu behaupten.
Dabei gibt es durchaus auch Gegenstimmen, beispielsweise aus der Partei PARENA, die auch darauf verweist, dass der über der Hälfte der stationierten Truppen und Polizeiausbilder aus afrikanischen Ländern stammen. Die Gefallenen der Bruderländer ehrend, warnt diese, sich von diesen zu entfernen. Obwohl die Mission nach zwei afrikanischen Kommandanten nur noch von Oberhäuptern aus EU-Ländern geführt wurde, machen europäische Länder insgesamt nur einen kleinen Anteil der Truppe aus.
Neben afrikanischen Staaten werden die meisten der über 11.000 Truppen von südasiatischen Ländern wie Bangladesch, Nepal und Pakistan entsendet. Trotzdem wird die Unterstützung der europäischen Armeen und besonders ihrer Technik als kritisch für die Mission eingeschätzt. Schon nachdem die französische Offensivmission Barkhane ausgesetzt wurde, hieß es, Minusma brauche robuste Unterstützung, zum Beispiel durch ein Aufstocken des deutschen Kontingents.
Nachdem sich seit Beginn der Kooperation mit der Wagner-Gruppe verschiedene europäische Länder aus der Mission zurückgezogen haben, hat sich deren Operationsfähigkeit noch weiter verringert. Ihr offizielles Ende scheint somit nur ein weiterer Schritt der Entfernung zwischen dem Westen und Mali, nachdem ihre Zusammenarbeit von der malischen sowie der französischen Öffentlichkeit kaum noch unterstützt wurden.
Für Deutschland, das seine Truppen schon seit einigen Monaten in das Nachbarland Niger abgezogen hat und nur noch mit einigen Militärberatern auf der strategischen Ebene und Ausbildern in Kriegs- und Menschenrecht vor Ort ist, ändert sich dabei wenig. Allenfalls sehen sich die Stimmen bestätigt, die der Terrorbekämpfung im Sahel durch überwiegend militärische Mittel schon immer kritisch gegenüberstanden, und die, die Russland im Sahel die Stirn bieten wollten, müssen wohl eine weitere Niederlage hinnehmen.
Inwieweit die souveränistische Militärregierung die Lage nur mit den Wagner Söldnern durch Fanga bewältigen kann, wird sich zeigen. Denn auch hier wird die Bevölkerung mit der Zeit die Schattenseiten zu spüren bekommen. Außer bei kleinen lokalen Waffenstillstandsabkommen zwischen ethnischen Gruppen machen andere Verhandlungsansätze, wie beispielsweise 2020 von Demonstranten gefordert, mit den islamistischen Gruppen, kaum Fortschritte. Und mit dem brüchigen Waffenstillstandsabkommen mit den Tuareg droht noch mal eine weitere, ernstzunehmende Front.