Alles ist besser als Nichts

Gesellschaftsgeschichte in Bildern: Vor 60 Jahren wurde Rainer Werner Fassbinder geboren, der wichtigste deutsche Nachkriegsregisseur

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Sehnsucht, Angst, Tränen, Tod, Liebe, Götter - man muss die Augen nur über seine Filmtitel schweifen lassen, um zu begreifen: Im Kino Rainer Werner Fassbinders geht es um alles. Das ist selten, nicht nur in einer Zeit, in der das Kino vielen nur als großes Spektakel gilt, geschaffen zu nichts mehr als zum bloßen Amüsement, zur Tröstung und Täuschung über eben dieses "alles" hinweg. Fassbinder drehte ohne Ausreden, mutig und konsequent. "Wenn man Filme machen muss, dann macht man sie auch.", meinte er - würde er noch leben, hätte der deutsche Gegenwartsfilm ein anderes Gesicht. Denn Fassbinder zeigte, dass letztlich alles möglich ist. Sein Werk ist die Utopie für ein deutsches Kino, dass noch nicht einmal weiß, wie eng die selbstgesteckten Grenzen sind.

"Hollywoods Geschichten sind mir lieber, als 'Kunstfilme'." Unter den vielen Vorurteilen, die nach wie vor über Rainer Werner Fassbinder grassieren, ist dies vielleicht das dümmste: Dass er sich fürs Publikum nicht interessiert habe, dass er für eine Kunst steht, die die Zuschauer verachtete, und an ihnen vorbei geschaffen werde. Das Gegenteil war der Fall. Fassbinder, geboren vor 60 Jahren, am 31.Mai 1945 in Bad Wörishofen, schätzte sein Publikum, achtete es so hoch, dass er ihnen nichts vorsetzte, das irgendwie verfälscht und gekünstelt war, dass er sie unterhalten wollte - allerdings bitte sehr nicht unter Niveau. "Schön spannend erzählen", so hat er selbst sein Credo beschrieben, "ohne viel Klimbim." Der einzige Vorwurf, den man ihm womöglich machen kann: Dass er sein Publikum überschätzt hat.

Aufgewachsen in der Not der Nachkriegsjahre, in persönlich schwierigen Verhältnissen - die Eltern ließen sich scheiden, als er sechs war; nach Tuberkuloseerkrankung der Mutter musste er für Jahre aufs Internat -, versuchte er den Wunsch zu verwirklichen, den er angeblich schon mit 12 Jahren gefasst hatte: "Ich wusste, ich werd' Filme machen ... Weil ich viel im Kino war, und das das einzige war, was mich wirklich interessiert hat." Doch die Berliner Filmhochschule lehnte ihn ab, und bei den Kurzfilmtagen von Oberhausen wurde sein erster Film zurückgewiesen. So begann er in München beim Theater. Bekannt wurde er schon mit Anfang 20 Ende der 60er als Regisseur und Schauspieler im legendären "antitheater", wo auch seine ersten eigenen Stücke aufgeführt wurden. Hier lernte er die kennen, die später zu seiner "Crew" wurden, und ihn sein Leben lang künstlerisch und persönlich begleiteten: Ingrid Caven, Hanna Schygulla, Irm Hermann, Peer Raben, Uli Lommel, Kurt Raab. Mit ihnen begann er auch erste Filme zu drehen, schon das Spielfilmdebüt "Liebe ist kälter als der Tod" (1969) wurde zum Erfolg.

"Nur wer Leier spielt, lernt Leier spielen."

Die sagenhafte Zahl von 43 Filmen hat er in nur 16 Jahren gedreht - doch nicht oberflächlich und zu schnell produziert waren sie, sondern einfach nur voller Selbstvertrauen und ohne mehr zu tun, als nötig war. Viele von ihnen sind Meisterwerke, einige gehören zum Besten, was es je gab im zugegeben zuletzt nicht gerade künstlerisch reich bestückten deutschen Film.

"Nur wer Leier spielt, lernt Leier spielen." begründete Fassbinder seinen Mut, Filme ohne technisches Vorwissen einfach zu machen, finanzielle Engpässe durch schnelles Drehen und persönliche Opferbereitschaft zu überbrücken. Keine Ausreden also, kein Jammern über böse Fördergremien, dumme TV-Redakteure, arrogante Filmakademien und bornierte Kulturministerien. "Wenn man Filme machen muss, dann macht man sie auch.", meinte er - ein Satz, den sich alle deutsche Filmemacher - junge wie alte - hinter den Spiegel stecken können, die immer nur von ihren großen Ideen erzählen, die sie nicht drehen können, weil die anderen schuld sind. Seine Formsprache brachte er sich selbst allmählich bei. Viele seiner Filme werden bleiben: Das Ehedrama "Martha" (1974), die Literaturverfilmungen "Effi Briest" (1974) und "Berlin Alexanderplatz" (1980), die Sozialportraits "Deutschland im Herbst" (1978) und "Lola" (1981) gehören zu den wichtigsten. In keinem Film bündelt sich sein Gesamtwerk so wie in dem zu Recht vielfach preisgekrönten "Die Ehe der Maria Braun": Eine hochemotionale Geschichte, ein Mittelschichts-Melodram, das immer die Gefühle der Zuschauer im Auge hat, sie nicht denen ihrer Figuren opfert. Und zugleich der Anspruch, eine Gesellschaftsgeschichte in Bildern zu erzählen, a la Balzac und Zola von der Macht, von Bürgertum und Kapitalismus nie zu schweigen, wo sie das sind, worum es tatsächlich gehen muss. Und bei alldem sind seine Filme auch herrliche Komödien, über den Wahnsinn des Spießertums.

Fassbinder heute?

Noch immer "im besten Alter" wäre Fassbinder heute, mit gerade einmal 60. Und es wäre hochinteressant zu wissen, was für Filme er machen, wie er Spektakel und Spaßgesellschaft der Gegenwart kommentieren - und gewiss bekämpfen - würde. Wie gern würde man auch seine Kommentare zu Krise und Arbeitslosigkeit, zu Rechtsextremismus und Fremdenangst hören - er fehlt uns nach wie vor, denn einen adäquaten Nachfolger in der filmischen und geistigen Öffentlichkeit hat Fassbinder auch 23 Jahre nach der schockierend frühen Todesnachricht vom 10. Juni 1982 nicht.

Bis zu diesem Tag war er Anreger und Motor, vor allem Repräsentant des "Neuen Deutschen Films". Würde er noch leben, da darf man sicher sein, hätte der deutsche Film ein anderes Gesicht: Längst hätte es einen deutschen Dogma-Film gegeben, den es auch zehn Jahre nach Lars von Triers Manifest nicht gibt - weil sich hier keiner traut, wie in Dänemark, Frankreich, USA mit seiner Digitalkamera einfach rauszugehen, und einen Film zu machen - weil er gemacht werden muss. es würde mehr Filmemacher geben, wie zum Beispiel den Berliner Christoph Hochhäusler und seine Kölner Produzentin Bettina Brokemper, die wagen, einen Film ("Falscher Bekenner", BRD 2005), notfalls ohne Fördergeld selbst zu finanzieren, weil sie von dem Projekt überzeugt sind - und dann mit der Einladung nach Cannes bestätigt werden. Mit Fassbinder würde es mehr Kunst und weniger Berechnung geben im deutschen Film, weniger Feigheit und mehr Mut. Zugegeben: Fassbinder hatte die leichteren Gegner. Heute ist das Establishment, das für Fassbinder einen dankbaren Kontrahenten abgab, klüger und offener geworden, und dazu gibt es zu viele Künstler, die ihm mit ihrer Kunst helfen, ein gutes Gewissen zu haben. Doch man muss nur einmal in einen Kinosaal gehen, wo ein Fassbinder-Film läuft, um zu sehen, wie dieser Künstler immer noch provoziert. Das mag nicht alles sein, aber es ist schon viel.

Weltgericht und Traumfabrik

Fassbinder ging es, wie gesagt, um alles. Sein Anspruch war gewaltig. Aufklärung und Unterhaltung, Ethik und Kunst, Kino und Leben sollten gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Darum war Fassbinder weit mehr, als nur ein Moralist, ist sein Kino nicht nur strenges Weltgericht, sondern auch Traumfabrik und Sehnsuchtskraftwerk, ist es dogmatisch gerade in seinem Anspruch, nichts auszulassen, das menschlich ist, sondern es mit liebendem Blick, aber in seiner Mechanik zu zeigen. Kino also, wie es anspruchsvoller nicht sein kann: als überzeugtes Festhalten daran, dass letztlich alles möglich ist. Und als solches auch Utopie für einen deutschen Gegenwartsfilm, der - bis auf wenige Ausnahmen - so anspruchslos ist, dass er noch nicht einmal weiß, wie eng die selbstgesteckten Grenzen sind.

Literaturtips:
"Fassbinder über Fassbinder" ist der Titel eines herausragenden Buches, das Robert Fischer im Verlag der Autoren herausgeben hat. Der faszinierende Band (Verlag der Autoren, Frankfurt 2005, 673 Seiten, 29.50 Euro) enthält 30 Interviews, darunter das erste und das letzte Gespräch mit dem Regisseur. Sie sind ungekürzt und in dieser Form allesamt Erstveröffentlichungen, viele sind überhaupt noch nie in Deutschland erschienen.

Eine gelungene Einführung bietet nach wie vor Michael Tötebergs rowohlt-Monographie: "Rainer Werner Fassbinder" (Rowohlt, Reinbek 2002; 160 Seiten, 8.50 Euro)