Alles offen: Machtgerangel in Hessen

Fünf Wochen nach der Landtagswahl gibt es noch keine entscheidenden Fortschritte bei der Regierungsbildung

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Schwarz-Rot, Schwarz-Grün oder Rot-Rot-Grün – und Rot-Grün-Gelb führt mindestens noch ein mediales Eigenleben: Gut fünf Wochen nach der Landtagswahl in Hessen ist nicht absehbar, wer im Wiesbadener Landtag künftig auf der Regierungsbank Platz nehmen wird. Die Annäherung zwischen CDU und Grünen ist allerdings noch bemerkenswerter als im Bund. Grünen-Chef Tarek Al-Wazir entdeckte schon nach dem zweiten Sondierungsgespräch Mitte Oktober Lösungswege, "die man vorher noch nicht so angedacht hatte". In der nächsten Woche wird weiter sondiert. Schwarz-Grün steht ebenso auf dem Prüfstand wie die Große Koalition – und mit der FDP wird immerhin wieder geredet.

Linkspartei weiter nicht regierungsfähig?

Der leichteste Weg, den von Rot-Grün vor der Wahl proklamierten Politikwechsel zu erreichen, führt nur scheinbar über eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei.

Zwar dürfte diese Kombination, trotz des historischen Fehlschlags in Hessen, der die politische Karriere von Andrea Ypsilanti vorübergehend zum Erliegen brachte, auf Landesebene weniger umstritten sein als im Bund. Schließlich wird in Wiesbaden nicht über Auslandseinsätze der Bundeswehr oder die Zukunft des Euro entschieden, sondern eher über Kita-Plätze, Ganztagsbetreuung an Schulen, die regionalen Folgen der Energiewende oder die haushaltspolitischen Herausforderungen angesichts der Schuldenbremse.

Doch die Bundespolitiker beobachten die Sondierungsgespräche ihrer Parteifreunde mit Argwohn – möglicherweise aus Angst vor der falschen Signalwirkung. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel soll bei einem Treffen der Parteisenioren in Baunatal sogar explizit vor einer Kooperation mit der Linken gewarnt haben. "Weil da fünf Irre stehen - im politischen Sinn."

Die sechs (!) Abgeordneten der Linken, die im neuen Parlament vertreten sind, bekamen derweil einen klaren Auftrag von ihrem Landesparteitag. Entscheidend sei nicht die Stabilität einer Regierung, "sondern richtige Politik", befanden die Delegierten und definierten noch einmal Grundpositionen, die wohl als nicht verhandelbar interpretiert werden dürfen. Dazu zählt die Schaffung von 30.000 Arbeitsplätzen zu einem Lohn von mindestens 10 Euro, der Bau von jährlich 4.000 neuen Sozialwohnungen und 2.000 Wohnungen für Studierende sowie die Einstellung von 7.000 Lehrern in der nächsten Legislaturperiode.

Beim grünen Sondierungsgesprächspartner stießen diese Vorfestlegungen jedoch auf Unverständnis. Man sei "verwundert" über den Verlauf des Parteitags, hieß es in einer Stellungnahme, in der Tarek Al-Wazir auch über mögliche Rollenverteilungen in einem Dreierbündnis spekulierte.

Offenkundig strebt die Linkspartei eine Arbeitsteilung nach dem Motto an: Die Linkspartei ist für die schönen Forderungen zuständig und SPD und GRÜNE dann für die unbequemen Entscheidungen und die Finanzierung. Wer sich einen so schlanken Fuß machen will, lässt es leider dramatisch an ernsthaftem Willen für einen Politikwechsel mangeln.

Tarek Al-Wazir

Auch im Streit um die Schuldenbremse zeichnete sich bislang keine Einigung ab. Obwohl der Hessische Staatsgerichtshof die Anträge der Linken am 9. Oktober ablehnte, will die Partei weiter gegen die Gesetzeslage kämpfen. Zur Not auch außerparlamentarisch. Der Fraktionsvorsitzende Willi van Ooyen geht ohnehin davon aus, dass nur seine Partei hinter dem rot-rot-grünen Projekt steht ("Wir sind ja die einzigen, die das wirklich wollen") und fürchtet außerdem, dass die großkoalitionären Gespräche in Berlin "schon Einfluss auf die Gespräche in Hessen haben".

Trotzdem dauerte die zweite rot-rot-grüne Sondierung am Freitag mehrere Stunden und soll in der kommenden Woche fortgesetzt werden.

Fast schon Minister

"Ich werde auch als Minister twittern", versprach der chattende Tarek Al-Wazir bereits zwei Tage vor der Landtagswahl in Hessen. Ob er überhaupt Minister wird, stand damals so wenig fest wie heute. Doch die Grünen und ihr Spitzenmann haben sich eine Schlüsselrolle im hessischen Machtpoker zugedacht – trotz des Verlusts von immerhin 2,6 Prozent der Wählerstimmen.

Dass die eine Hälfte ihrer Klientel ein Bündnis mit Sozialdemokraten und Linkspartei favorisiert, während ebenso viele grüne Wähler für eine Koalition mit der CDU votieren, interpretiert man keineswegs als Anstiftung zur programmatischen Beliebigkeit, sondern als klaren Auftrag, jetzt endlich Regierungsverantwortung zu übernehmen. Selbstredend nur, um Inhalte umzusetzen ...

Gestaltung ist denn auch das Zauberwort in der grünen Verhandlungsrhetorik – auch und gerade im Duell mit der Linkspartei. Die müsse sich entscheiden, so Al-Wazir, ob sie nun eine Gestaltungspartei sein oder eine Protestpartei bleiben wolle.

2008 war der potenzielle Minister, der gern die Ressorts Wirtschaft und Verkehr übernehmen würde, schon einmal zu Gesprächen über eine schwarz-grüne Regierungsbildung eingeladen worden. Allerdings nicht von dem mittlerweile zum konzilianten Landesvater mutierten Volker Bouffier, sondern von Roland Koch, dem grünen Feindbild Nr.1. Seinerzeit amüsierte sich der ambitionierte Fraktionschef über das "unsittliche Angebot", traf sich trotzdem mit der Union und kehrte – wie erwartet – ohne Ergebnis zurück.

Fünf Jahre später hat sich die Lage in Hessen wie im Bund nicht nur atmosphärisch verändert. Man führt "lohnende" Gespräche, entdeckt "neue Lösungswege" für eine gemeinsame Schul- und Energiepolitik und findet die Gespräche "spannend" und "konstruktiv".

Gleichwohl gibt es Positionen, die sich nur schwer anpassen und verschieben lassen. Der von den Grünen geforderte Verzicht auf das geplante Terminal 3 am Frankfurter Flughafen inklusive Ausweitung des Nachtflugverbots dürfte in der dritten Sondierungsrunde mit der Union – neben den wichtigsten Finanzierungs- und Haushaltsfragen - das zentrale und vielleicht auch entscheidende Thema sein.

Ob es schon diesmal für Schwarz-Grün reicht, ist weiterhin offen, aber der Boden für eine künftige Zusammenarbeit scheint auch in Hessen bereitet, wo die Differenzen lange Jahre unüberwindbar schienen.

Unabhängig vom Ausgang der Sondierungsgespräche erhoffe ich mir für die zukünftige Arbeit im Landtag, dass die tiefen Gräben zwischen den Lagern in Hessen durch diese Gespräche etwas zugeschüttet werden.

Tarek Al-Wazir

In Berlin über Hessen reden

Die vermeintliche Lieblingskoalition der Deutschen, die sich bis Weihnachten unter der Regie von Angela Merkel zusammenfinden will, wäre selbstredend auch eine Opposition für den Landtag in Wiesbaden. Zumal die beiden Verhandlungsführer nicht nur in Hessen, sondern auch in Berlin an einem Tisch sitzen.

Nach Einschätzung von SPD-Landeschef Thorsten Schäfer-Gümbel, der bald auch stellvertretender Bundesvorsitzender werden soll, haben die Koalitionsgespräche in der Hauptstadt zwar keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Situation in Hessen. Doch wer in großer Runde Streitthemen wie Mindestlohn oder Steuerhöhungen bewältigt, könnte es auch auf Länderebene schaffen, zumal die Konsequenzen dort unmittelbar zu spüren wären.

Außerdem verbinden Bouffier und Schäfer-Gümbel im Berliner Verhandlungsmarathon auch gemeinsame Interessen. Sollten sich SPD und Union hier auf eine Neuregelung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern verständigen, werden beide dafür sorgen wollen, dass sich Hessens Spielräume eher vergrößern als verkleinern. Das gilt vor allem, wenn die viel diskutierten Steuerhöhungen in den unteren Schubladen verschwinden. Keine Mehreinnahmen, aber eine Schuldenbremse – diese Konstellation dürfte CDU und SPD auch im Wiesbadener Landtag zu einem schwierigen Balanceakt zwingen.

Es wird dann kaum noch darum gehen, wie die Vielzahl der Wahlversprechen umgesetzt, sondern wie ihre Aussetzung annähernd plausibel begründet werden kann.

Am Katzentisch

Was macht eigentlich die FDP? Nach dem niederschmetternden Wahlabend waren die selbsternannten Liberalen gezwungen, 5 (Komma null) Prozent als Erfolg zu verkaufen und ansonsten damit beschäftigt, ihre Wunden zu pflegen. Auf der Homepage des Landesverbandes konnte man die Pressemeldungen, die seit Mitte September veröffentlicht wurden, an einer Hand, präziser gesagt: an einem Finger abzählen.

Nach einem Monat Sendepause bestätigte der Landesvorsitzende Jörg-Uwe Hahn am 16. Oktober dann aber ein Treffen mit der SPD. Dabei handele es sich jedoch nicht um ein Sondierungsgespräch, man wolle lediglich "über die allgemeine politische Lage in Hessen" reden. Dabei hatte sich eine mediale Plattform schon auf das "Geheimgespräch" über eine Ampel-Koalition gefreut und neben Kommentatoren aus dem Bundesvorstand einen ominösen "FDP-Spitzenmann" ermittelt, der mit seiner Meinung natürlich nicht hinter dem Berg hielt: "Die Ampel hat eine realistische Chance. Auch an der Basis schwindet der Widerstand!"

Ob es an der FDP-Basis jemals Widerstand gab, wenn eine Regierungsbeteiligung in Aussicht stand, sei einmal dahingestellt. Parteisprecher Daniel Rudolf wollte von einer Ampel-Koalition in der kommenden Legislaturperiode jedenfalls nichts wissen. Schließlich wurde sie von seinen Parteifreunden vor der Wahl kategorisch ausgeschlossen.

Davon abgesehen scheint es auch bei SPD und Grünen keine Neigungen zu geben, der FDP dabei zu helfen, den schillernden Begriff Liberalismus neu zu definieren. Über diese Machtoption chattete Tarek Al-Wazir schon im September locker hinweg: "Ich würde selbst mit Jörg-Uwe Hahn reden, aber das wird ein kurzes Gespräch."

Wie lange sich die Regierungsbildung in Hessen noch hinzieht, weiß niemand mit Sicherheit zu sagen. Ein weiteres wochenlanges Tauziehen erscheint ebenso möglich wie ein überraschendes Ende durch schnelle Entscheidungen. Der neue Landtag konstituiert sich sicherheitshalber erst am 18. Januar 2014.