Alles unter Kontrolle?
Verschwörungen, Vertuschungen, Fakes - Erkundungen im Grenzland von Vernunft und Paranoia
Das Verschwörungsdenken blüht: kaum ein Übel der Welt, dem nicht von einer Minderheit angelastet wird, dass es durch eine Gruppe von Verschwörern verursacht oder ausgelöst ist. Ob AIDS oder Rassenhass, Staatsverschuldung und Sittenverfall, oder Außerirdische, die mit der US-Regierung unter einer Decke stecken und Menschenexperimente durchführen, stets sind in den Augen einiger Menschen Verschwörer am Werk, die das Gemeinwesen zwecks eigener Interessen ausbeuten und in der Regel nichts weniger als die Weltherrschaft anstreben - und nebenbei noch für ungeklärte Fälle von Kennedy bis Barschel, von Hitler bis Watergate verantwortlich sind.
Wird die Welt wirklich bald durch eine geheime Gruppe übermächtiger Verschwörer regiert - oder reagiert die Bevölkerung auf ein immer komplexeres globales Geschehen nur mit immer simpleren Schuldzuweisungen und erschafft so moderne Mythen und Märchen? Die Grenze zwischen berechtigter Panik und haltloser Paranoia, zwischen facts und phantasy ist nicht immer leicht zu ziehen...
Wenn Agent Fox Mulder die Augen aufreißt und seiner Partnerin, Agentin Scully, einen verzweifelten Blick zuwirft - worauf diese vielsagend die schöne Stirn in Falten zieht -, dann wissen die Zuschauer von "Akte X": SIE haben wieder zugeschlagen oder stecken zumindest dahinter. Wer SIE genau sind, bleibt auch nach mehr als hundert Folgen der "Ungeklärten Fälle des FBI" im Dunkeln, aber dass irgendwer dahinterstecken muss, hinter all diesen mysteriösen Ereignissen - und nicht nur irgendwer, sondern eine machtvolle Struktur oder Organisation - das ist klar. Zumindest für den Agenten Mulder. Denn der findet Beweise über Beweise, und da, wo keine zu finden sind, findet er Beweise dafür, dass sie vernichtet wurden.
"Ein Paranoiker", so der Schriftsteller William S. Burroughs, "kennt immer alle Fakten" - der unermüdlich Fakten aufdeckende Agent Mulder wäre insofern der perfekte Paranoiker - und tatsächlich ohne die skeptische, erdgebundene Frau Doktor Scully an seiner Seite spätestens in Folge drei im Irrenhaus gelandet. So aber wurde er zu einem der beliebtesten Fernsehhelden und die "X-Files" zu einer der weltweit erfolgreichsten TV-Serien der 90er Jahre. Ein postmoderner Don Quichotte, der nicht nur den alten aussichtslosen Kampf kämpft - in diesem Fall gegen die Windmühlenflügel mysteriöser Verbrechen und Vertuschungen - sondern der auch weiß, dass die mit der Aufdeckung dieser Fälle beauftragten Agentur, und damit er selbst, ebenfalls ein Teil der Vertuschung sind. Insofern wird aus dem Puzzle, das Mulder und Scully zusammentragen, nie ein ganzes Bild - und wenn, dann zeigt es nicht, wer SIE wirklich sind, denn SIE haben das Bild manipuliert. Nur eines zeigt sich wieder und wieder: dass es eine Große Verschwörung geben muss, die hinter all dem steckt.
Mulders Dilemma
Mulders Dilemma ist ein doppeltes: einerseits hat sich die ganze Welt (einschließlich aller Geheimdienste, Militärs und möglicher extraterrestrischer Zivilisationen) gegen ihn und seine Ermittlungen verschworen - und diese Verschwörung ist so mächtig und universell, dass sie niemals aufgedeckt werden kann. Andererseits aber kann niemand, nicht einmal seine Vertraute Scully, seine verrückten Theorien widerlegen - denn jeder Beweis gegen sie, funktioniert gleichzeitig auch für sie. Zumindest für Mulder. SIE stecken wieder dahinter .... nichts ist, wie es scheint - gegen derlei doppeltes Blendwerk kämpfen selbst Superhelden vergeblich.
"Wem es gelingt, dir falsche Fragen einzureden, dem braucht auch vor der Antwort nicht zu bangen", hieß es in Thomas Pynchons großem Verschwörungs-Roman "Die Enden der Parabel" in den 70er Jahren - für die Agenten der ausgehenden 90er ist diese fatale Erkenntnisfalle täglich Brot. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass mit Mulder und Scully zwei Fernsehfiguren zu Superhelden wurden, die untentrinnbar in ein Spiegelgefecht von Wahrheit und Lüge, Manipulation und Realität verwickelt sind. Sie markieren das Ende der klassischen Aufklärung - dem Glauben, dass sich eine objektive Wahrheit, eine eindeutige Realität von außen erkunden lässt. Die Agentur, in deren Auftrag die beiden nach Wahrheit suchen, ist selber Teil des Problems - und wie der Beobachter in der Quantenphysik kann Mulder den Dingen nur auf die Spur kommen, indem er selbst Teil des Experiments wird.
Verschwörung ist die Schattenseite der Kooperation
Es gibt viele Verschwörungstheorien, aber keine allgemeine Theorie der Verschwörung - was unter anderem damit zu tun hat, dass Verschwörung etwas so Allgemeines, Selbstverständliches ist, dass es dazu gar keine große Erklärung braucht. Dass A und B eine Absprache treffen, um sich gegenüber C einen Vorteil zu verschaffen, gehört auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und natürlichen Lebens zur alltäglichen Praxis - und ebenso alltäglich ist es, dass A und B, um ihren Vorteil gegenüber C zu vergrößern, diesen über ihre Absprachen im Dunkeln lassen. Mit dieser geheimen Absprache sind schon alle Ingredienzen einer Verschwörung komplett - ob in der Natur zwei Parasiten einander zuarbeiten, um einen dritten beim Beutemachen auszustechen, ob im Geschäftsleben mit diskreten Absprachen die Konkurrenz ausgetrickst wird, oder in der Politik, wo Nachrichten- und Geheimdienste ebenso unverzichtbar sind wie im Privatleben Klatsch und Intrigen.
Verschwörung, so scheint es unter dieser allgemeinen Perspektive, ist nicht nur eine Art soziologischer Standard, sondern auch eine evolutionäre Norm, eine Verhaltensform, die allen gesellschaftsfähigen Gruppen, von der Bakterienkolonie bis zur Staatengemeinschaft, eigen ist. Tatsächlich gehört es zu den aufregendsten Entdeckungen der neuen, post-darwinistischen Biologie, dass die Evolution des Lebens nicht allein auf dem Prinzip der Konkurrenz, dem berühmten Survival of the Fittest, beruht, sondern dass das genau entgegengesetzte Prinzip, das der Kooperation und Symbiose, hinzukommen muss, um die Evolution voranzubringen. Verschwörung - Konspiration - wäre dann so etwas wie die Schattenseite dieses neu entdeckten Kooperations-Prinzips, und vielleicht ist das der Grund, warum das Thema Konspiration noch nicht ins rechte Licht der Wissenschaft gerückt ist und bis heute keine allgemeine Theorie der Verschwörung existiert. Die kollektiven Antennen des Fernsehvolks sind da sensibler, denn es hat mit Mulder und Scully zwei investigative Verschwörungsforscher und Desinformations-Experten als heimliche Helden des Informationszeitalters installiert. Und es hat auch von der Realität der Verschwörung eine ziemlich eindeutige Meinung.
Das Verschwörungsdenken blüht
Im September 1996 ergab eine Umfrage unter 800 erwachsenen Amerikanern, dass 74 Prozent - praktisch also drei von vier Bürgern - glauben, dass die US-Regierung regelmäßig in geheime und verschwörerische Aktivitäten verstrickt ist. Verwechseln diese zutiefst misstrauischen US-Bürger einfach nur Fernsehen und Realität ? Auch wenn das Ergebnis einer solche Umfrage in Deutschland, wo man der Obrigkeit traditionell eher mit Blauäugigkeit statt mit Misstrauen begegnet, weniger drastisch ausfallen würde, sind diese drei von vier Durchschnittsamerikanern, die ihre Regierung ruchloser, verbrecherischer Aktivitäten verdächtigen, keineswegs alle verrückt oder paranoid. Dieselbe Studie ergab, dass nur 29% an Zauberkräfte glauben und ganze 10% davon überzeugt sind, dass Elvis Presley lebt.
Ziemlich normale Zeitgenossen also - und doch hegen Dreiviertel von ihnen Ansichten über den Staat, wie sie noch vor hundert Jahren allenfalls von einer Handvoll Anarchisten und Berufszynikern geteilt wurden. Sie wissen sehr wohl zwischen Nachrichten und "Akte X" zu unterscheiden - doch sie ahnen, dass selbst die verrücktesten Fälle von Mulder und Scully nicht völlig fiktiv sind - und die offiziellen Fakten der Nachrichten längst nicht mehr wahr. Dass die Parteien und Vater Staat für Demokratie und Gerechtigkeit sorgen und die Polizei dein Freund und Helfer ist - derlei fromme Denkungsarten, wie wir sie noch auf der Schule lernten, müssen aus dieser Perspektive als hoffnungslos naiv gelten. Stattdessen zieht sich der Verdacht, von einer korrupten, kriminellen Clique regiert zu werden, durch das gesamte politische Spektrum und alle Schichten.
Politiker und Großkapital sind freilich nicht die einzigen, die einem derart massiven Vertrauensschwund ausgesetzt sind. Unter der Gattung homo sapiens gibt es wohl kaum eine Gruppe, die nicht schon zum Objekt angstvoller Verdächtigungen und Vorwürfe einer anderen Gruppe geworden ist. Das reicht von Großgruppen wie Nationen, Rassen, Religionsgemeinschaften über Berufsklassen wie Gebrauchtwagen-Händler, TV-Mechaniker oder Zahnärzten bis zur Straßen-Gang oder dem Dorf-Clan nebenan. Das Verschwörungsdenken blüht - und es gibt weder ein Weltübel noch ein Lokalproblem, das nicht irgendeiner bestimmten Gruppe angelastet wird.
Historisch wurden zum Beispiel zuerst die Juden, später die Ketzer und danach die Hexen über lange Jahrhunderte als Inkarnation der Weltübel und "Anti-Christ" schlechthin betrachtet. Nach der Französischen Revolution kamen dann die Freimaurer, Kommunisten und Kapitalisten sowie die Geheimdienste dazu. Hitler kombinierte zwei der beliebtesten Hassgruppen zur "jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung", hetzte seine willigen Vollstrecker damit zum Weltkrieg und wurde zum schreckensreichsten Verschwörungstheoretiker des Jahrhunderts. Seitdem sind Auswahl und Kombinationsmöglichkeiten potentieller Hassgruppen noch viel größer geworden - und weil der menschliche Geist offenbar die Angewohnheit hat, alles, was er permanent in einer bestimmten Perspektive wahrnimmt, in dieser Perspektive zu vergrößern, lässt sich das Böse im Prinzip überall entdecken. Man muss nur lange genug hinsehen.
Insofern überleben auch Verschwörungstheorien jede Kritik - als populäre Dämonologie teilen sie diesen erhabenen Zustand mit ihrem klassischen Zwitter, der Theologie. Dass Gott überall ist, lässt sich mit wissenschaftlichen Experimenten so wenig beweisen wie man die These widerlegen kann, letztlich und allerletzten Endes habe das Böse doch die Kontrolle über die Welt. Hängen also die zahlreichen Zeitgenossen, die ihren Regierungen, Finanzämtern, Institutionen, Wissenschaftlern, Medien, kurz: allem und jedem misstrauen, nur einer Art materialisiertem Aberglauben an, der nicht mehr Teufel, Dämonen und Übersinnliches für alle Missgeschicke verantwortlich macht, sondern leibhaftige Personen oder Gruppen?
Auch wenn jeder Verschwörungstheoretiker die These von sich weist, dass es sich bei seinem Fall um eine Glaubensangelegenheit handelt und sogleich Fakten, Dokumente, Beweise präsentiert, sind die strukturellen Parallelen zwischen altem Dämonenglauben und neuem Verschwörungsdenken nicht zu übersehen. Sie reduzieren eine komplexe, unbegreifbare Realität auf ein simples Ursache-Wirkungs-Schema.
Verschwörung als Verhaltensnorm
Für den Autor und Psychologen Robert Anton Wilson, der in den 70er Jahren zusammen mit Robert Shea die zum Kultroman und Welt-Bestseller avancierte Verschwörungs-Trilogie "Illuminatus" schrieb und im letzten Jahr unter dem Titel "Everything under control" ein Kompendium der Konspiration vorgelegt hat (Lexikon der Verschwörungen) , sind Verschwörungen als " ganz normale Fortsetzung ganz normaler Geschäfts- und Wirtschaftspraktiken mit ganz normalen Absichten" unserem Gesellschaftssystem "eingeboren": "Im Prinzip", so Wilson, "verhält sich jedes einzelne Individuum als Verschwörer, wie beim Poker."
Wenn sich im Prinzip jedes Individuum als Verschwörer verhält und dies eine ganz normale Fortsetzung ganz normaler Geschäftspraktiken mit ganz normalen Mitteln darstellt - Verschwörungen als etwas durch und durch Selbstverständliches sind -, warum gibt es dann in den meisten Ländern Gesetze dagegen ? Weil es eben meist doch nicht so ganz normal und mit ganz normalen Mitteln zugeht.
Der Vorsitzende des Ausschusses für Drogen, Gesetzesvollzug und Außenpolitik des US Senats, John Kerry, war entsetzt, als bei der Untersuchung der Iran-Contra-Affäre 1992 aus den Akten erfuhr, dass der Geheimdienst CIA Drogen ins Land schmuggelte und die Narco-Dollars aus diesen Geschäften zur Finanzierung seiner Operationen verwendete:
"Was wir zuerst fanden, konnten wir einfach nicht glauben, nein, das ist einfach zu unglaublich. Ich glaub das nicht. Und dann wird es an einer anderen Stelle von jemandem erhärtet - Detail für Detail : die Macht des Narco-Dollars, der ganze Länder kauft und ganze Rechts-Institutionen - auf beiden Seiten der Revolutionen, und der die Geo-Politik in einer Weise ändert mit der wir wirklich nichts zu tun haben wollen. Und das geschieht nicht nur in Mittelamerika, sondern es geschieht auch im fernen Osten und es geschieht im Bekaa-Tal. Ist es wahr, oder ist es nicht wahr, dass nahezu alle politischen Gruppen, ob revolutionär oder nicht, Profite aus Drogengeschäften nutzten, um Waffen zu kaufen und ihre Operationen zu finanzieren ?" (zit. nach A.v.Bülow: Im Namen des Staats, München 1998)
Dass der Chef des Geheimdiensts CIA auf diese entsetzte Frage wahrheitsgemäß "Ja, Sir", antwortet, "da Ihr Senat uns die Gelder, die wir zur Stabilisierung unseres geopolitischen Einflusses in insgesamt 50 Ländern benötigen, niemals bewilligen würde, sind wir gezwungen, andere Einnahmequellen zu erschließen. Drogengeschäfte bieten sich wegen der hohen Profitraten da ebenso an wie der Waffenhandel, vor allem wenn wir beide Konfliktparteien damit beliefern..." - mit einer solchen Antwort ist nicht zu rechnen. Nicht weil sie falsch wäre - zu den Punkt für Punkt erhärteten Details, die den Ausschussvorsitzenden Kerry sprachlos machten, sind mittlerweile viele weitere, sorgsam recherchierte Beweise hinzugekommen - sondern weil diese Wahrheit mit der nationalen Sicherheit kollidieren würde.
Hier berühren wir einen weiteren, für eine Theorie der Verschwörungstheorie wesentlichen Punkt: es ist nicht in erster Linie der überforderte, zu naivem Sündenbock-Denken neigende Bürger, der den Nährboden für das Wuchern von Verschwörungstheorien abgibt, es sind die von chronischer Paranoia befallen Staaten und Machteliten. Oder anders ausgedrückt: wenn heutzutage drei Viertel der Bevölkerung ihrer Regierung misstrauen, dann trauen die Regierungen ihrer Bevölkerung erst recht nicht mehr über den Weg.
Paranoia als Staatsstil
Lauschangriff, Videoüberwachung, Urinkontrollen sind nur einige aktuelle Stichworte - darüber hinaus hat jeder Staat Gesetze gegen Verschwörung und verfügt über Behörden und Sonderstäbe, die Tag und Nacht jeder Art von Subversion auf der Spur sind. Folgen wir dem englischen Historiker R.J.Blackburn, dann sind Stämme, Nationen, Staaten ohne Geheimdienste gar nicht lebensfähig, weil es immer einen anderen Stamm gibt, vor dem man sich abgrenzen oder schützen muss - und weil auch im Inneren potentielle Feinde, die am Stuhl der jeweils Herrschenden sägen, stets eine Bedrohung darstellen. Das Verschwörerische ist also nicht nur dem Wirtschaftsleben, sondern auch dem Leben der Staaten eingeboren - und dies sorgt für eine grausame Ironie: der Hang zur Bekämpfung von Verschwörungen führt nicht zur Eindämmung konspirativen Verhaltens, sondern produziert und fördert es geradezu.
Mulders Dilemma - dass die Agentur zur Aufdeckung von Vertuschungen selbst zur Vertuschung beiträgt - ist nicht eingebildet, sondern Realität. Sein Schlachtruf "Trau keinem" ist längst insofern von der Wirklichkeit übertroffen - nicht von irgendeinem Phantasten, sondern einem der mächtigsten Staatsmänner des Jahrhunderts: "Ich traue niemandem. Nicht einmal mir selbst!" bekundete Josef Stalin - und setzte damit das definitive Diktum für den paranoischen Staatsstil des 20. Jahrhunderts.
Stalin traute in der Tat nicht einmal mehr seinen engsten Mitarbeitern und nach den mörderischen Säuberungsaktionen, mit denen er Mitte der 30er Jahre jede Opposition in Partei und Militär eliminiert hatte, trauten die verbliebenen Genossen ihm ebenfalls nicht mehr. Hinter jeder Kritik, jedem Widerspruch und noch hinter jedem kleinen Witz argwöhnte der Diktator eine Verschwörung - und so verlegten sich seine Mitarbeiter aufs Köpfenicken und Speichellecken. Auch als er sämtliche Nachrichten über eine bevorstehende deutsche Invasion als "fragwürdige Quellen" oder "britische Provokationen" abtat und seine Militärs anwies, nichts zu unternehmen. Als die deutsche Wehrmacht innerhalb von zehn Monaten 3,2 Millionen Mann an der russischen Grenze zusammengezogen hatte, tat Stalin Berichte über eine bevorstehende Aggression als "grundlose Panikmache" ab.
Sein Vertrauen in den Nicht-Angriffs-Pakt mit Hitler war ebenso grenzenlos wie sein Misstrauen gegen innere Feinde und Desinformation - und seine Angst in die Falle eines britischen Komplotts zu geraten. "Es gibt wenige Völker", so ein Historiker des 2. Weltkriegs, "die vor einer anstehenden Invasion besser gewarnt waren als die Sowjetunion im Juni 1941". Dennoch schränkte Stalin nach der erfolgten Invasion Juni die Gegenmaßnahmen noch weitere acht Stunden ein - notgelandete deutsche Aufklärungsflugzeuge wurden sogar repariert und mit vollem Tank zurückgeschickt. Bis zu diesem Zeitpunkt hielt Stalin den deutschen Angriff noch für eine Aktion eigensinniger oder von den Briten gesteuerter deutscher Generäle, die sich über Hitlers eigentliche Wünsche hinwegsetzten. Stalins Glaube an diese eingebildeten Verschwörungstheorien hatte dazu geführt, dass er die reale Verschwörung gegen sein Land völlig ignorierte. So konnte der deutsche Generalstab in seinem Tagebuch festhalten, dass die Sowjetarmee in keiner Weise verteidigungsbereit war und "taktisch an der gesamten Front überrascht" wurde (vgl. Daniel Pipes. Verschwörung, Faszination und Macht des Geheimen, München 1998, S. 297 ff.).
"Wem es gelingt, dir falsche Fragen einzureden, dem braucht auch vor der Antwort nicht zu bangen", hätte Stalin zu diesem Zeitpunkt die richtigen Fragen zugelassen, und rechtzeitig ein Bollwerk an seiner Westgrenze errichtet, wäre der 2. Weltkrieg sehr viel anders verlaufen. Sein Verhalten offenbart einen weiteren Aspekt einer Theorie der Verschwörung: die Verstrickung in Verschwörungstheorien kann die Wahrnehmung der Realität so stark beeinträchtigen, dass die wirkliche Gefahr von Verschwörung völlig aus dem Blick gerät. Der isolierte Machtmensch im Kreml glaubte wirklich niemanden mehr, nicht seinen Untergebenen noch den gleichlautenden Geheimdienstberichten aus aller Welt - nur einem Menschen schenkte er noch Vertrauen, und der furchtbaren Ironie der Konspiration, dass der Versuch ihrer Eindämmung ihre Ausbreitung fördert, wird mit dieser Konstellation das Sahnehäubchen aufgesetzt: der einzige Mensch, dem der Paranoiker Stalin noch traut und dem gegenüber er nie sein Wort gebrochen hat, war ausgerechnet Hitler.
"Der äußere Schein trügt" - diese Grundregel des Verschwörungsdenkens hatte der sowjetische Diktator so verinnerlicht, dass er die Wolkenkratzer der deutschen Angriffsmaschinerie für Potemkinsche Dörfer hielt - und Hitler für einen Ehrenmann. Über die Parallelen der beiden Groß-Diktatoren ist bereits viel geschrieben worden, die verschwörungstheoretische Sicht offenbart hier weitere interessante Aspekte. Ein wichtiger Grund, warum Stalin die Hitler-Gefahr übersehen konnte, war, dass er schon einen leibhaftigen Gott-Sei-Bei-Uns und Urheber alles Bösen hatte: seinen ehemaligen Kampfgenossen Leo Trotzki, dessen Vasallen er auch nach Trotzkis Ermordung überall im Land am Werke sah.
Für Stalin schien die Gefahr eher von innen zu kommen und diese eingebildete Verschwörungstheorie unterdrückte alle Nachrichten über reale Verschwörungen von außen. Bei Hitler indessen lief es verschwörungstechnisch genau umgekehrt: er benutzte und instrumentalisierte eine eingebildete Verschwörung von außen - die angeblichen Gefahren der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung - zum Aufbau eines realen Verschwörungssystems im Inneren und entfesselte den Weltkrieg. Und wie es so ist in den seltsamen Schleifen des paranoiden Denkens, scheint er als Drehbuch und Anleitung eben jene Verschwörungstheorie benutzt zu haben, zu deren definitiven Ausrottung er anzutreten vorgab: "Die Protokolle der Weisen von Zion"
Hitler als "Schüler der Weisen von Zion"
1864 hatte der Rechtsanwalt Maurice Jolly ein Pamphlet gegen die despotische Herrschaft Napoleons III. verfasst, das, um die Zensur zu täuschen, als Dialog von Montesquieu und Machiavelli ausgegeben wurde. Letzterer vertritt in diesem Dialog die Ansicht, die Menschheit sei nur durch eine umfassende, totalitäre Herrschaft zu retten, während Montesquieu die liberalen Ansichten des Autors vertrat. Jolly musste die Veröffentlichung mit 15 Monaten Gefängnis und 200 Franken Geldstrafe bezahlen und beging enttäuscht vom Leben später Selbstmord. Dass seine geistreiche Schrift zur Basis einer der verhängnisvollsten Fälschungen der Weltgeschichte werden sollte, hat er nicht mehr erlebt.
1898 verfasste der in Paris lebende jüdische Russe Elie de Cyon, eine beißende Satire auf den neuen russischen Finanzminister Witte und benutzte dazu lange Passagen aus Jollys Dialog. Die russische Geheimpolizei Ochrana, die auch in Paris Verschwörungen gegen das Zarenreich auf der Spur war, geriet in Besitz des Papiers und schrieb es zu einem Lehrbuch zur Eroberung der Weltherrschaft um. Ausgegeben als Dokument einer jüdischen Geheimregierung und unter dem Titel "Die Protokolle der Weisen von Zion" war aus Jollys Plädoyer für Demokratie und Toleranz eine antisemitische Hetzschrift geworden.
1903 wurden die "Protokolle" erstmals in einer St. Petersburger Zeitung abgedruckt und der Zar war so beeindruckt, dass er Auszüge in 362 Moskauer Kirchen verlesen lies. Doch immerhin verbot Nikolaus II. die weitere Verwendung, als eine Untersuchungskommission den Text kurz darauf als Fälschung entlarvte. Seitdem ist die Weltverschwörungstheorie der "Protokolle" dutzendfach als Fälschung ausgewiesen und auch von Gerichten als solche bewertet worden, was ihre Verbreitung unterdessen nicht aufhielt.
Der Autokönig Henry Ford, der eine Bolschewisierung Amerikas durch das liberale Judentum fürchtete, druckte die Thesen des Pamphlets im großen Stil nach - doch ihren großen Siegeszug trat die Theorie von der jüdischen Weltverschwörung erst im nationalsozialistischen Deutschland an. Hitler zitierte 1921 erstmals aus den Protokollen und von da an tauchten sie in seinen Reden immer wieder auf. Dass es sich bei den Dokumenten, die in den deutschen Ausgaben als Protokolle des Zionistenkongresses in Basel, 1897, ausgegeben werden, um eine Fälschung handelt, weiß zwar auch Hitler genau. Doch wie für jeden Verschwörungstheoretiker wirkt auch für Hitler jeder Beweise gegen seine Theorie gerade für sie - wie er im ersten Band von "Mein Kampf" deutlich zu verstehen gibt:
"Wie sehr das ganze Dasein dieses Volkes auf einer fortlaufenden Lüge beruht, wird in unvergleichlicher Art in den von den Juden so unendlich gehaßten "Protokollen der Weisen von Zion" gezeigt. Sie sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die "Frankfurter Zeitung" in die Welt hinaus: der beste Beweis dafür, daß sie echt sind. (...)... wenn dieses Buch erstmal Gemeingut eines Volkes geworden sein wird, darf die jüdische Gefahr auch schon als gebrochen gelten." (Mein Kampf, München 1935, S. 337)
Nach seiner Machtübernahme sorgte Hitler dafür, dass der Inhalt der Protokolle zum Gemeingut in Deutschland wurde. Die Behauptung, eine jüdischen Weltverschwörung habe schon die Revolutionen in Frankreich und Russland ausgelöst und unterwandere nun mit Demokratie und Liberalismus den Rest der Welt unterwandere, wurde zum Lehrstoff an Schulen. Noch über dem gerade besetzten Frankreich ließen die Deutschen Flugblätter mit Thesen aus den "Protokollen" abwerfen. Dies zeigt, welche zentrale Rolle diese fiktive Verschwörungstheorie für Erziehung und Agitation im Dritten Reich spielte. Noch interessanter aber ist die oben schon angesprochene Tatsache, dass sich Hitler, - anders als Stalin, der wegen einer fiktiven Verschwörung die reale übersah - eine fiktive Verschwörung zum Hauptfeind erkor, um exakt nach ihrem Modell eine reale Welteroberungs-Strategie zu schmieden. So wurde Hitler, wie Hannah Arendt in ihrer Analyse über die Ursprünge totalitärer Herrschaft schreibt, zu einem "Schüler der Weisen von Zion":
"Die totalitären Bewegungen adaptieren die organisatorischen Mittel der Geheimgesellschaften, und entleerten sie gleichzeitig der einzigen Substanz, die solche Methoden rechtfertigen und zweckmäßig erscheinen lassen können, nämlich des Geheimnisses und der Notwendigkeit, es zu hüten..... Die Nazis begannen mit einer ideologischen Fiktion einer Weltverschwörung und organisierten sich mehr oder weniger bewußt nach dem Modell der fiktiven Geheimgesellschaft der Weisen von Zion." (Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 595)
Die Frage, ob sich die Nazi-Elite nicht nur unbewusst nach dem Muster der fiktiven Geheimloge von Zion organisiert hat, sondern gezielt von realen Geheimgesellschaften wie dem Germanen-Orden "Thule" gesteuert wurden, ist mittlerweile Gegenstand von ausgefeilten Verschwörungstheorien. So versucht sich ein junger Antiquar aus Süddeutschland unter dem Pseudonym Jan van Helsing in einem mehrbändigen Werk über "Geheimgesellschaften und ihre Rolle im 20. Jahrhundert" an dem Nachweis, dass alle jemals aufgedeckten Verschwörungen nur zur Tarnung der Illuminaten dienen, hinter denen eigentlich die Rothschild-Familie steckt, die alle Nationen und so auch die "Marionette Hitler" in Kriege treibe und sie zwingt, sich bei ihren Banken zu verschulden.
Das krude Werk, das wegen einiger an die "Protokolle" und "Mein Kampf" erinnernde Passagen in Deutschland auf dem Index für jugendgefährdende Schriften steht, stellt die Nazis dennoch als verrückte Hass-Fanatiker dar - die freilich nur untergeordnete Werkzeuge einer Jahrhunderte umfassenden Super-Verschwörung von Rothschild & Rockefeller-Plutokraten waren. In etwas avancierter Form wird eine ähnliche These auch in dem aktuellen Konspirations-Bestseller "Das schwarze Reich" vertreten. Der Autor E.R.Carmin schreibt:
"Weder der erste noch der zweite Weltkrieg, weder der Kommunismus noch das Dritte Reich Adolf Hitlers waren Betriebsunfälle der Geschichte. ... Okkult-esoterische Machtgruppen standen hinter dem Experiment eines auf rein spirituell-magischer Basis aufgebauten Dritten Reichs ebenso wie hinter dem nicht zuletzt mit vatikanischer Hilfe beendeten kommunistischen Experiments im Ostblock." vgl. (E.R.Carmin: Das schwarze Reich - Geheimgesellschaften und Politik im 20. Jahrhundert, 4. Auflage, München 1999)
Auf 900 Seiten und mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat versucht der Autor zu beweisen, dass die Nazis nicht nur, wie Hannah Arendt meint, die Organisationsstruktur einer Geheimgesellschaft übernommen, sondern auch bewusst oder unbewusst, die Inhalte und Zwecke einer Geheimgesellschaft weiter betrieben haben: die der Illuminaten.
Die Illuminaten
Der Illuminaten-Orden wurde am 1. Mai 1776 in Ingolstadt von dem Freimaurer, Theologie-Professor und ehemaligen Jesuiten Adam Weishaupt gegründet. Der "Encyclopedia Britannica" zufolge gelang es den Illuminaten rasch, viele Freimaurerlogen unter ihren Einfluss zu bringen und eine bedeutende Position in der Bewegung der republikanischen Freidenker zu erringen. Die Errichtung einer neuen kosmopolitischen Weltordnung ohne Staaten, Fürsten und Klassen, wie sie den Illuminaten vorschwebte, zog auch viele bedeutende Männer, wie etwa Goethe oder Herder, an. Doch die ganze Bewegung kam abrupt zu einem Ende, als sie 1784 von der bayerischen Regierung verboten wurde.
Für viele geht die Geschichte der Illuminaten mit ihrer offiziellen Auflösung 1785 allerdings erst richtig los, zählte doch eben dieses Verschwinden und die Operation im Verborgenen zu ihren eigentlichen Prinzipien, wie sie Weishaupt und sein Mitbruder Adolph Freiherr von Knigge in ihren "Instructiones" benannt hatte :
"Wenn nur die Zwecke erreicht werden, so ist es gleichgültig, unter welcher Hülle es geschieht, und eine Hülle ist immer nötig. Denn in der Verborgenheit beruht ein großer Teil unserer Stärke. Deswegen soll man sich immer mit dem Namen einer anderen Gesellschaft decken. Die Logen der unteren Freymauererei sind indessen das schicklich Kleid für unsere höheren Zwecke...."
Das war Wasser auf die Mühlen von frommen Verschwörungsjägern wie dem Abbé Barruel, der 1806 eine fünfbändige Horror-Studie vorlegte: über ein Komplott von Freimaurern, Illuminaten und Juden als Auslöser der Französischen Revolution - und als heimliche Unterwanderer der katholischen Kirche, die schon von 800 jüdischen Priestern und Bischöfen infiltriert sei. Dem Freimaurer-Historiker Albert G. Mackey zufolge hatten die Illuminaten mindestens 2000 Mitglieder in Freimaurerlogen in ganz Europa, doch Mackey betont, dass der Baron von Knigge, eines der einflussreichsten Illuminaten-Mitglieder und frommer Christ, sich schwerlich so für den Orden eingesetzt hätte, wenn die Abschaffung des Christentums das Ziel gewesen wäre.
Abbé Barruel indessen brachte die Illuminaten mit islamischen Sufi-Orden, ketzerischen Tempelrittern und einer weltweiten jüdischen Verschwörung in Verbindung - und legte damit das paranoische Basiswerk vor, dank dem die erleuchteten Logenbrüder der Illuminaten nach ihrem offiziellen Verschwinden erst richtig Karriere machten und auch nach 200 Jahren Konspirologie immer noch ihr Unwesen treiben. Zwar ist ein Baron von Knigge heute allenfalls noch durch ein berühmtes Handbuch für gute Manieren ein Begriff - dass sich freilich hinter dem Namen des distinguierten Freiherrn der dämonische Drahtzieher und Pionier einer bis heute andauernden Weltverschwörung verbirgt, ist einer der typischen Kicks in der Zwielichtzone des Verschwörungsdenkens. Nichts ist, wie es scheint.
Das schielende Auge Gottes
Fragt ein Laie einen Verschwörungsexperten, was es mit diesen mysteriösen Illuminaten auf sich hat, wird dieser an einer bestimmten Stelle und zur Abkürzung der endlosen Erklärung eine Dollarnote zücken. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte - und es zeigt auf jedem amerikanischen Dollar eine Pyramide, deren Spitze ein Dreieck mit einem strahlenden, magischen Auge bildet: das "Great Seal" der Vereinigten Staaten.
Es ist das Siegel des Weishauptschen Illuminaten-Ordens. Der Sockel der Pyramide zeigt die Jahreszahl 1776: das Datum der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Es ist Gründungsjahr des Illuminaten-Ordens. Darunter steht : Ordo Novus Seculorum - die Neue Weltordnung. Das erklärte Endziel der Illuminaten - und gerade im jüngsten Golfkrieg hat ihr Bruder George Bush den Begriff wieder ins Spiel gebracht, als im Namen der Neuen Weltordnung der zuvor von der CIA aufgepeppte Saddam Hussein abgestraft wurde. Aber nur ein bisschen, wie Verschwörungsexperten wissen, damit nämlich Israel weiter an der anglo-amerikanischen Kandare bleibt und das eigensinnig mit Saddam Handel treibende Frankreich endgültig seinen Einfluss im Nah-Ost-Schach verliert. Öl und der Illuminaten-Dollar hängen bekanntlich zusammen.... noch Fragen?
Ja. Ist nicht das Auge im Dreieck einfach nur das alte ägyptische und später auch christliche Symbol für die Ewige Wachsamkeit Gottes ? Um diesen Einwand zu entkräften, bedarf es schon einer Lupe - aber tatsächlich: das Auge hat einen Zinken, es schielt. Und warum ? Es ist nicht Gott, sondern das Allsehende Auge der Gnosis, das esoterische Symbol der Wissenden und Erleuchteten - der Illuminaten eben, die die Welt mittlerweile fast unter das Joch ihrer Währung und Zinsforderungen gebracht haben.
Je komplexer die Verhältnisse werden, desto umfassendere und gleichzeitig simplere Erklärungsmuster werden gebraucht. Unter einer veritablen Riesenverschwörung, die alles erklärt, geht heute nichts mehr - die angeblich seit über 200 Jahren verborgen operierenden Illuminaten sind dafür nur ein Beispiel. In ihrer diabolischen Verschlagenheit stellen sie die finstersten Dämonen des guten alten Aberglaubens weit in den Schatten.
Weiter geht es demnächst mit: "Das Internet - Nährboden für Konspiration und Garant dezentraler Kontrolle" von Mathias Bröckers.