Alles unter Kontrolle: Verschwören und Spionieren sind tägliches Geschäft in Wirtschaft und Politik
Illuminatus-Autor Robert Anton Wilson hat ein "Lexikon der Verschwörungstheorien" verfasst
Verschwörungstheorien passen sich natürlich den neuen Gegebenheiten an. Auch wenn Geheimgesellschaften, Geheimdienste, Regierungen, dunkle Gruppen und Bösewichter im Still von James Bond noch immer ihren Dienst tun, sind schon lange die nicht ganz so wirklichen Teufel und Dämonen von Außerirdischen ersetzte worden, die allerlei Unheil auf Erden anrichten, immer mal wieder UFOs schicken, Menschen entführen oder auch manch Auserwählte mit einem Raumschiff wie für die Sekte Heaven's Gate abholen, deren Mitglieder für die Auffahrt zum Himmel Selbstmord begingen.
Für die "Götter von Eden", die William Bramley 1990 in einem dicken Wälzer beschrieb, sind die Menschen so nur eine "Sklavenrasse", die sich im Privatbesitz befindet: "Um diesen Besitz zu kontrollieren und die Erde als eine Art Gefängnis zu erhalten, hat diese Zivilisation ewige Konflikte unter die Menschen gesät, hat geistigen Verfall gefördert und das Leben auf der Erde physisch äußerst hart gemacht." Die Außerirdischen sind aber gelegentlich lüstern und entführen reihenweise Menschen, um sich an ihnen sexuell zu vergehen, oder sie führen genetische Experimente an ihnen durch. Hat man die Entführung "vergessen", kann man feststellen, ob man zum Opfer wurde, indem man beispielsweise ungewöhnliche Male an sich entdeckt, Phobien entwickelt, unter Schlafstörungen leidet oder allgemein misstrauisch wird.
Überall wimmelt es von Machenschaften, und nun hat sich Robert Anton Wilson, Autor der Trilogie "Illuminatus", in der es auch um Weltverschwörungen geht, und selbst von manchen als Mitglied einer Verschwörungsgruppe bezichtigt, dem Thema angenommen und "Das Lexikon der Verschwörungstheorien" herausgebracht. Das mag freilich etwas übertrieben sein, es ist eine keineswegs vollständige, sondern recht persönliche Sammlung von Menschen, Fällen, Institutionen, Organisationen und Veröffentlichungen, die irgendwie mit dem Thema Verschwörung zu tun haben. Verschwörungen sind eingängige Geschichte von Komplotten, die alles erklären können, und sie haben den Vorteil, dass alles in sie integriert werden kann und sie bestätigt, besonders natürlich Versuche, die Verschwörungstheorien zu widerlegen. Und weil das Internet bekanntlich voll von Verschwörungstheorien aller Art ist, die man hier schneller, billiger und ohne jede Prüfung in die Welt bringen kann, kann man von Wilsons Buch aus durch die vielen Links auch jede Menge Absprungsstellen in dieses Universum paranoider Mutmaßungen finden. "Besonders Amerikaner", sagt Wilson, "scheinen Geschmack an Geschichten zu finden, die behaupten, dass alles Schlechte von den Manipulationen einer bösartigen Gruppierung herrührt, die kein bisschen moralischer ist als SPECTRE in den James-Bond-Filmen."
Für Wilson, der selbst nicht ganz die Berechtigung aller Verschwörungstheorien nach der Devise "Bloß weil du nicht paranoid ist, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht hinter dir her sind" leugnet, leben wir in einer Zeit, in der die Menschen einander mehr misstrauen als jemals zuvor. Und er führt eine Umfrage unter amerikanischen Bürgern aus dem Jahr 1996 an, die ergeben haben soll, dass 74 Prozent glauben, die US-Regierung sei regelmäßig in geheime und verschwörerische Aktivitäten verstrickt. Hingegen glauben nur 29 Prozent an Hexerei, was ja ganz beruhigend ist. Möglicherweise ist, so überlegt Wilson, das allgemeine Misstrauen gegenüber den Mitmenschen nach Auschwitz und Hiroshima unvermeidlich geworden. "Diejenigen, die da glauben, 'Verschwörungstheorien' enthalten nichts als paranoide Phantastereien", warnt Wilson, "sollten bedenken, dass die Regierung der Vereinigten Staaten höchstselbst, aber auch andere fortgeschrittene Regierungen an Verschwörungen glauben und Gesetze dagegen haben ... Wenn wir (oder drei von uns) den Leuten, die uns regieren, nicht trauen, dann trauen die uns auch erst recht nicht." Schließlich wurde in den USA derzeit Osama bin Laden als eine Art terroristischer Weltverschwörer aufgebaut, während in Europa, aber auch in manchen Kreisen der USA, gerade die Angst kursiert, dass amerikanische Geheimdienste etwa mit dem Echelon-System jede Kommunikation abhören, die über Satelliten übertragen wird. Für Wilson schaukeln sich die Verschwörungstheorien zwischen Regierung und Bevölkerung gerne immer weiter auf, denn wenn die Bevölkerung ihrer Regierung nicht traut, dann traut auch diese ihrem Volk nicht mehr und baut die Lausch- und Überwachungsmöglichkeiten aus. In seinen Vorträgen hat Wilson die Zuhörer immer wieder gefragt, ob "einer von ihnen jemals freiwillig die ganze Wahrheit über irgend etwas einem Staatsbeamten erzählen würde. Niemand hat je die Hand gehoben."
Die Geheimdienste spielen dabei eine nicht zu verachtende Rolle, denn sie sollen nicht nur Informationen sammeln und richtig bewerten, sondern auch gezielt Desinformationen in die Welt, um die Gegner zu täuschen. Für Wilson allerdings gehören Verschwörungen und Angst vor Verschwörungen zum normalen kapitalistischen und politischen Alltag: "Jeder im Business verschwört sich gegen die Konkurrenz, jeder versucht mehr zu wissen als die Konkurrenz, was zur üblichen Industriespionage führt, und jeder versucht, die rivalisierenden Firmen in die Irre zu führen und zu täuschen. Das gilt noch verstärkt für die internationalen Beziehungen und die konkurrierenden Geheimdienste ... Gerade hat sich das Europäische Parlament darüber beschwert, dass der amerikanische Geheimdienst NSA europäische Unternehmen ausspioniert. So etwas geschieht dauernd - Lügen und Spionieren ist tägliches Geschäft in Wirtschaft und Politik, insofern ist das Verschwörerische dem Kapitalismus eingeboren. Nicht dass er von der Spitze, von einer supergeheimen Gruppe regiert würde, wie einige Verschwörungstheorien glauben, sondern im Prinzip verhält sich jedes einzelne Individuum als Verschwörer, wie beim Poker."
Allerdings glaubt Wilson, dass mit dem Internet, das einerseits die Menschen mit immer mehr Informationen überschwemmt und die Verbreitung von Verschwörungstheorien über eine unüberschaubare und unsichere Welt begünstigt, auch ein Heilmittel gegen wirkliche Verschwörungen darstellt. Da das Internet von den Regierungen nicht mehr wirklich kontrolliert werden könne, kann auch die Kontrolle nicht mehr zentralisiert werden. Über das Internet entsteht für ihn "eine weltweite Gemeinschaft mit dezentralisierter Kontrolle und wachsenden Fähigkeiten, Entscheidungen zu treffen. Politiker sind obsolet: Im nächsten Jahrtausend (also in diesem) werden wir uns selbst repräsentieren."
Robert Anton Wilson: Das Lexikon der Verschwörungstheorien. Herausgegeben und bearbeitet von Mathias Bröckers. Eichborn Verlag. 400 Seiten. DM 44.- (Originalausgabe: Everything is under Control. Conspiracies, Cults, and Cover-ups. 1998)