Als Russland rot wurde: Die "Wiedertaufe des Menschen"
Seite 2: Das "Revolutions-Mysterium"
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Unter anderem stieß er den Bau eines Monuments für Marx und Engels in Moskau an und ließ zu dem Zweck eine 160 Tonnen schwere Granitplatte legen, auf der später das Denkmal stehen sollte. In einer Zeremonie proklamierte Lenin 1920 die geplante Errichtung und würdigte Marx als Lehrer des Weltproletariats. Eine kurzerhand zuvor aufgestellte Statue soll wegen Baumängeln bereits eingestürzt sein.
Es kommt noch besser. In Petrograd/St. Petersburg wurde 1920 auf dem heutigen Schlossplatz der "Sturm" auf den Winterpalast nachinszeniert. Petrograd versank 1920 in Hunger und Chaos.
Die Inszenierung des Massenspektakels zum dritten Jahrestag der Revolution, inmitten der geschundenen Stadt und ihrer Bewohner, oblag dem russischen Theaterregisseur Nikolaj Evreinov (1879-1953). Nachgestellt werden sollte die heldenhafte Einnahme des Winterpalais, die es so niemals gegeben hatte.
Das gigantische Schauspiel begann um zehn Uhr abends und dauerte etwa sechs Stunden. Von 100.000 Zuschauern war später die Rede, es gab tausende Komparsen (einige Quellen sprechen von 7.000, andere von 10.000) und ein 500-köpfiges Orchester.
Aus dem Theaterereignis wurde im Nachhinein "Historie". Dokumente der Inszenierung, Materialien involvierter Kulturschaffender sowie Memoiren beteiligter Regisseure legen ein beredtes Zeugnis von der Prägekraft gefakter Geschichtsbilder ab.
Das Fachportal H-Soz-Kult schreibt:
Die Texte (die erwähnten Schriftzeugnisse des Spektakels) dokumentieren den schieren Größenwahn der politischen Entscheidungsträger, die es für möglich erachteten, im von Not und Bürgerkrieg geplagten Petrograd ein ressourcenzehrendes "Revolutions-Mysterium" abzuhalten.
Gleb J. Albert (DFG-Forschergruppe Medien und Mimesis): Sturm auf den Winterpalast: Geschichte als Theater, Rezension 2018
Was denkt Putin?
Und wie ist es heute? Im postsowjetischen Zarenreich eines Großmannssüchtigen? Greift "Putinland" (so ein aktueller Buchtitel) auf den Mythos vom triumphalen Anbruch der Revolution zurück?
Nein, sagen zeitgenössische Beobachter übereinstimmend. Etwa die Osteuropa-Historikerin Ekaterina Makhotina, die in Bonn zur russischen Geschichtspolitik forscht. In einem Beitrag für das Magazin APuZ (Aus Politik und Zeitgeschichte) über die Erinnerung an die Revolution im heutigen Russland schreibt sie (2017):
Russlands (heutige) Geschichtspolitik besteht aus dem gezielten und selektiven Rückgriff auf die stolzen und glorreichen Ereignisse einer tausendjährigen Geschichte. Bindeglied dieses Rückgriffs ist die militärische Ruhmesgeschichte Russlands, die anhand von siegreichen Schlachten und Kriegsherren erzählt wird.
Im Zentrum des Narrativs (heute) steht die Erinnerung an den "Großen Vaterländischen Krieg" zwischen 1941 und 1945. Da die Kriegserinnerung auch im biografischen und alltäglichen Gedächtnis der Russen den wichtigsten Platz einnimmt, können sich viele Menschen mit diesem Narrativ identifizieren.
Ekaterina Makhotina, Erinnerung an die Russische Revolution im heutigen Russland. Aus: Politik und Zeitgeschichte / bpb.de, 17.08.2017
Wladimir Putin selbst distanzierte sich im Januar 2016 anlässlich einer Präsidialsitzung dezidiert von Lenin, indem er Folgendes mitteilte:
Die Kontrolle des Gedankenflusses ist richtig, es ist nur notwendig, dass dieser Gedanke zu den richtigen Ergebnissen führt, nicht wie bei Wladimir Iljitsch (=Lenin). Schließlich führte dieser Gedanke am Ende zum Zusammenbruch der Sowjetunion, das ist es, was er bewirkt hat.
Es gab eine Menge solcher Gedanken (…) Man hat eine Atombombe unter das Gebäude gelegt, das Russland heißt, die dann explodiert ist. Auch die Weltrevolution brauchten wir nicht.
Wladimir Putin im Januar 2016 nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax in der Sitzung des Präsidialrates für Wissenschaft und Bildung
Also lieber keine Weltrevolution? Ende desselben Jahres (2016) konkretisiert Putin seine Ansicht noch einmal folgendermaßen, indem er die "nationale Eintracht" beschwört:
Die historische Lehre der Revolution besteht in der "Versöhnung" und der "nationalen Eintracht".
Wladimir Putin, Rede vor der Föderalversammlung, 1. Dezember 2016
Die Quintessenz dieser politischen Umdeutung lautet nach Makhotina: "Versöhnung". Versöhnung, sagt sie, wird hier zur sinngebenden Logik der Revolutionserinnerung. Das dient klar dem einen Ziel: Der Stärkung des Nationalbewusstseins und der Aufrechterhaltung des Status Quo.
In dieses System getürkter "Versöhnung" passt nicht der Wunsch nach Veränderungen. Weder in Richtung einer neuen Oktoberrevolution, noch im Sinne eines Alexej Nawalny.
Die Rote Revolution – Traum und Albtraum
Nach Angaben des regierungsnahen russischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM ("Allunions-Meinungsforschungszentrum") betrachteten 100 Jahre nach der Oktoberrevolution 46 Prozent der Russen die Folgen des Umsturzes von 1917 positiv, 46 Prozent negativ (Stand 2017, Frankfurter Rundschau).
Die unabhängige Internetplattform дekoder (Russland entschlüsseln) schreibt:
Forschungskontroversen um die Revolutionen von 1917 entzündeten sich unter anderem daran, ob das Ende des Imperiums systemisch bedingt oder ob der Erste Weltkrieg entscheidend für die Ereignisse von 1917 war. In jüngerer Zeit sind beide Revolutionen des Jahres 1917 zudem als Teil eines "Kontinuums der Krise" (Peter Holquist) zwischen 1914 und 1921 interpretiert worden. In dieser Perspektive waren die Revolutionen eine Zeit kurzlebiger Hoffnungen und Utopien, vor allem aber waren sie Teil einer umfassenden sozialen und kulturellen Krise.
https://www.dekoder.org/de/gnose/russland-oktoberrevolution-1917
Noch einmal 1917. Die Arbeiterkolonnen sangen (so schildert es Paustowskij):
Von Arbeiterhand ward geschaffen
Der Grund, auf dem Throne stehn.
Wir schmieden uns selber die Waffen,
können selber Patronen uns drehn.
Konstantin Paustowskij, a.a.O., S. 15
Dem martialischen Siegeszug der Bolschewiki kam schon bald jedes Charisma abhanden. Die Revolution endete im Staatssklaventum. Propaganda und brutale Knebelung und Überwachung wurden zu zwei Seiten derselben Medaille; der ursprüngliche revolutionäre Impuls, der Traum von Gleichheit und Gerechtigkeit, erstarrte im Dogmatismus.
Die 1948 geborene Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch nannte später den Sowjetmenschen "ein(en) Schmetterling in Zement."
Lenin bezog am 11. März 1918 im Kreml seine Wohnung. Zur gleichen Zeit bezog die Tscheka, das gefürchtete "Schwert der Revolution", ihr Hauptquartier im der Moskauer Lubjankastraße. Die Bolschewiken hießen nun offiziell "Russische Kommunistische Partei". Sie waren unter Lenin als Sieger hervorgegangen.
Der russische Bürgerkrieg wütete noch bis 1921 und kostete weitere Millionen das Leben. Ende 1922 bestätigte der Allunionskongress der Sowjets den Vertrag über die Gründung der UdSSR durch den Zusammenschluss von Russland, Weißrussland, der Ukraine und Transkaukasien.
Die Sowjetunion war geboren.