Als Russland rot wurde: Die "Wiedertaufe des Menschen"

Entschlossen, im Aufbruch, aber auch leicht verbissen? Sowjet-Jugend der 1920er- / 1930er-Jahre (aus dem Werk des Holzbildhauers Abalyaev Kimry. Foto: Sergey Korneev / CC-BY-SA-4.0

Der sowjetische Gründungsmythos vom "Sturm auf das Winterpalais" 1917 ist eine starke dramaturgische Verdichtung der Ereignisse. Putin beschwört heute lieber die nationale Einheit. Die Oktoberrevolution ist ihm suspekt. (Teil 2 und Schluss)

Von der scharfen Luft des Revolutionswinters schmerzte der Kopf. Nebelhafte Romantik wogte in unseren Herzen. Ich konnte und wollte ihr nicht widerstreben. Der Glaube an das Glück des ganzen Volkes leuchtete als ewige Morgenröte über dem aufgewühlten Leben, und es musste einmal kommen. Unser Wunsch sei allein schon die Gewähr dafür, so meinten wir naiv.


Konstantin Paustowskij, a.a.O., S. 7

1917/18 folgte man der Überzeugung, die Februarrevolution müsse zwangsläufig und quasi nach einem weltgeschichtlichen Gebot zu einer zweiten russischen Revolution führen. Leo Trotzki (der übrigens in Janowka in der Ukraine geboren wurde und als Junge in Odessa die deutsch-lutherische Schule besuchte) sprach von den "Forderungen der Geschichte":

Die Massen schufen Epoche, die Führer fühlten, dass ihre Schritte mit den Schritten der Geschichte sich vereinigten. (… ) Die Bahn war vorausbestimmt. (…) Unter der Last der Ereignisse formulierten die 'Führer' nur das, was den Bedürfnissen der Masse und den Forderungen der Geschichte entsprach. Der Marxismus betrachtet sich als den bewussten Ausdruck des unbewussten geschichtlichen Prozesses.


Leo Trotzki, Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Kap. 29: An der Macht. Zuerst in dt. Sprache Berlin 1929

Nach der Finsternis des Zarismus erfolgt der Eintritt in die "eigentliche" Geschichte: So lautet die "große Erzählung" dieser Tage. Die Erzählung eines Weltenbruchs – der doch einem "unbewussten" und zugleich höheren Telos entstammt.

Hier verbinden sich revolutionäre Motive "mit der messianischen Tradition des russischen Geschichtsdenkens", sagen Vertreter der mentalitätsgeschichtlichen Diagnose, die tiefer in die Geschichte einsteigt und dabei auf wundersame Weise Eschatologisches, ja Nihilistisches zutage fördert.

Der Journalist und frühere Times-Korrespondent Peter Watson befasst sich in seiner breit angelegten Ideen- und Kulturgeschichte in einem eigenen Kapitel mit der bolschewistischen Erlösungslehre - und entdeckt nietzscheanische, ja sogar okkulte Züge. Mit Bezug auf den US-Religionssoziologen Paul Froese (Baylor University) schildert Watson den Tauf-Ritus "sowjetischen Stils" (die rote Taufe), bei dem ein Beamter die Invokation über dem zu taufenden Kind – dem künftigen Sowjetmenschen – mit folgenden Worten zu Gehör bringt:

Das Leben wird strahlender und schöner,

Viel schneller ist sein wundervoller Lauf.

Ein kleiner Mensch wurde hier

In unsere Sowjetfamilie geboren.

Heute feiern wir zu seinen Ehren, feiern ihn,

Dem die Zukunft gehört, und sagen ihm

'Heil dir, neuer Bürger, unseres großen Sowjetstaats.'


Paul Froese, The Plot to Kill God: Findings from the Soviet Experiment in Secularization. Los Angeles/Berkeley/London 2008, S. 60 (zit. bei Watson, S. 280)

Trotzki selbst wird noch konkreter (oder blumiger?), nämlich was den neuen Menschen angeht. Er erwarte, schreibt Trotzki 1924, dass der Sozialismus

(…) einen höheren gesellschaflich-biologischen Typus, und wenn man will – den Übermenschen (hervorbringen werde), der es gelernt hat, Flüsse und Berge zu versetzen (…) Der durchschnittliche Menschentyp wird sich zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben, und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.


Leo Trotzki, Literatur und Revolution. Essen (Mehring) 1994, S. 250ff.

Das kann durchaus ungute Assoziationen wecken. Die Wiedertaufe, aus der der neue Mensch hervorgeht, oder am Ende noch mehr als das?

Der Proletarier als Kultfigur

Es gibt eine ganze Reihe von Autoren, die den Sozialismus in diesem erweiterten Sinne nicht nur als ökonomische oder politische Kategorie betrachten wollen, sondern die Analogien zwischen Sozialismus (incl. seiner "Menschgottheit") und Religion hervorheben. Sozialismus als natürliche Folge des Religionsverfalls, aber selbst auch als Erscheinungsform des Messianismus?

Georg Lucács machte in seinen Schriften 1923 das Proletariat (ähnlich wie Bucharin es tat) zur "messianischen Klasse" des Weltgeschehens. Damit wird der Proletarier zur Kultfigur, die das Volk aus der Unterwerfung befreit ("Proletkult").

Der russische Zahlentheoretiker, Geschichtsforscher und Literat Igor R. Schafarewitsch (1923 bis 2017), 1960 Mitglied der Leopoldina, sieht die Anziehungskraft der sozialistischen Lehren und ihr Potenzial, Volksbewegungen zu inspirieren, gerade im (mehr oder weniger verborgenen) Charakter des Sozialismus als Religion. Sein Resümee, auf den knappsten Nenner gebracht:

Ein religiöser Zug lässt sich ebenfalls daran sehen, dass der Sozialismus die Geschichte nicht als chaotische Erscheinung begreift, sonder ihr Ziel, ihren Sinn und ihre Rechtfertigung herausstellt. Die sozialistische wie die religiöse Geschichtsauffassung ist teleologisch.


Igor R. Schafarewitsch, Der Todestrieb in der Geschichte. Erscheinungsformen des Sozialismus. Ffm – Berlin - Wien (Ullstein Kontinent), Dt. Erstausgabe 1980, S. 276ff.

Allerdings unterstellt auch Schafarewitsch diesem verkappten Modell von Religion eine implizite selbstzerstörerische Kraft.

In einer detailgenauen "Übersicht über einige Betrachtungsweisen des Sozialismus" führt Schafarewitsch neben anderen Denkern auch den russischen Religionsphilosophen A. Bulgakowan (eigentlich: Sergij N. Bulgakov, 1871 bis 1944, Publizist der Zeit um die Jahrhundertwende, ab 1924 als Theologieprofessor und Dekan in Paris).

Bulgakov, so lesen wir bei Igor Schafarewitsch, charakterisierte den Sozialismus direkt als Wiederkehr des Messianismus:

In diesem Sinne stellt der moderne Sozialismus eine Renaissance der altjudäischen Lehren dar; K. Marx und Lassalle sind Apokalyptiker neuen Zuschnitts, die das messianische Reich prophezeien.


Sergij Bulgakow, Christianstwo i sozialism (Christentum und Sozialismus), Moskau 1917

Man muss nicht betonen, dass weltweit die Darstellungskraft derjenigen Bilder bis heute nachwirkt, die in der Revolution die Morgenröte einer neuen Welt erblickt: Mitsamt dem Homo soviecticus, dem wiedergeborenen Menschen. Die heroische Ikonografie der Umsturzerzählung hat es bis in westliche Schulbücher geschafft.

Peter Watson erwähnt ein Gedicht Wladimir T. Kirilows "Der eiserne Messias" (Železnyi Messija), in dem Jesus als Fabrikarbeiter dargestellt wird, und kommt zum selben Schluss:

Der neue Sowjetmensch verkörperte die Idee, dass der Mensch neu erschaffen werden könne (…)


Peter Watson, Das Zeitalter des Nichts. Eine Ideen- und Kulturgeschichte von Friedrich Nietzsche bis Richard Dawkins. München (Bertelsmann) 2014, S. 278.

"Die Hände sehnen sich nach Erde"

Die Realität sieht bescheidener aus.

Wir lassen noch einmal Konstantin Paustowskij zu Wort kommen, als einen Kronzeugen aus Moskauer Tagen. Als die Regierung von Petrograd nach Moskau übergesiedelt war, schickte die Redaktion der "Wlast Naroda" (Macht des Volkes) Paustowskij zur Berichterstattung in die Lefortowoer Kasernen, wo Lenin vor demobilisierten Soldaten sprechen sollte. Paustowskij erinnert sich:

Im Raum stand ein säuerlicher Dunst, es roch nach nassen Militärmänteln und Karbol. Die Soldaten mit ihren Gewehren, in schmutzigen Gamaschen und verquollenen Schnürstiefeln, saßen einfach auf dem nassen Fußboden. Zum größten Teil handelte es sich um Frontsoldaten, die nach dem Brester Frieden in Moskau hängengeblieben waren. Ihnen war nichts recht. Sie misstrauten allen und jedem.


Konstantin Paustowskij, a.a.O., S. 65f.

Paustowskij steht da, eingezwängt zwischen abgerissenen Soldaten, entwurzelten Bauersleuten und hinzudrängenden Wissbegierigen; es ist kaum zu vernehmen, was Lenin sagt, ständiges Raunen und Gemurmel übertönt den Redner.

Er (Lenin) verspricht Frieden und Land. Hast du 's gehört?" raunt ein Landsturmmann. "Das ist das Wichtigste. Die Hände sehnen sich nach der Erde und das Herz nach meinen Leuten, von denen ich ganz abgeschnitten bin.


Konstantin Paustowskij, a.a.O., S. 67

Es ist sicher nicht abwegig, zu behaupten: Die Erzählung dieser Tage vom unabänderlichen Sinn der Geschichte tat ihren Beitrag, einem geschundenen Menschenvolk (und auch den Ereignissen selber) so etwas wie Struktur zu geben, Bedeutung zu verleihen.

Das Narrativ vom "Unabänderlichen" des Geschichtslauf glorifizierte den "Umbruch", und dies galt für Generationen; die Auffassung bot Identifikationspotenzial in wechselnden, aber in sich stimmigen Parolen: Da ist die Rede vom "Ziel der Geschichte","Siegreicher proletarischer Weltrevolution", vom "Fortschritt der Völker des Planeten", "Abwurf der Ketten", u.s.f.

Anstelle von Großartigkeit erkennen andere in den Oktoberereignissen schon früh vor allem eine Gewaltexplosion. Selbst Maxim Gorki (1868 bis 1936, sein eigentlicher Name war Alexei Maximowitsch Peschkow), Gründer der bolschewistischen Zeitung Neues Leben (1905) und (jedenfalls zeitweise) persönlicher Freund Lenins, grauste vor einer unkontrollierbaren Menge, die sich auf den Straßen wälzen würde.

Von der Macht der Bilder

Zur Geschichts(re)konstruktion gehört die entschlossene "Arbeit an der Wirklichkeit", will sagen: Die Arbeit daran, wie es gewesen sein soll ("postfaktische" Geschichtserzählung).

Die "Oktoberrevolution" war kein Aufstand der Massen. Sie war vielmehr der Putsch einer kleinen Gruppe entschlossener Revolutionäre.


Aus: Patrick Oelze (Hg.), Revolutionen. Historisches Lesebuch. Berlin (Landeszentrale für politische Bildung) 2014

Beispiel Winterpalast. Der "Sturm" auf das Palais in der Nacht vom 7. auf den 8. November ist geradezu zum Symbolbild der Revolution geworden. Dabei blieb der Umsturz in großen Teilen der Stadt gänzlich unbemerkt: "Ein stiller Umsturz statt Massenrevolution", so unspektakulär sah wohl die Wahrheit aus. In einem Dossier der Zentralen für politische Bildung in Bund und Ländern heißt es dazu:

Es gibt verschiedene Berichte von Augenzeugen, dass während der Machtübernahme der Bolschewiki das Leben in der Stadt, nicht nur in den Stadtteilen, sondern sogar im Zentrum, normal weiterging. Trotzki räumte später ein, dass nur etwa 25.000 bis 30.000 Menschen aktiv am Aufstand beteiligt waren. Das waren kaum fünf Prozent der Arbeiter und Soldaten Petrograds.

Erst später gelang es der kommunistischen Propaganda, den Sturm auf das Winterpalais als den dramatischen Höhepunkt der Revolution darzustellen. Die historische Wahrheit wurde verfälscht, um die Opferbereitschaft und den Mut der Bolschewiki heroisieren zu können. (…) Erst in den folgenden Monaten sollte sich zeigen, wie einschneidend die Machtübernahme der Bolschewiki die weitere Entwicklung Russlands bestimmen sollte.


Landeszentrale für politische Bildung BW – Die Oktoberrevolution 1917

Lenin unternahm seinerseits alles Erdenkliche, um das Ereignis propagandistisch auszuschlachten.

Das "Revolutions-Mysterium"

Unter anderem stieß er den Bau eines Monuments für Marx und Engels in Moskau an und ließ zu dem Zweck eine 160 Tonnen schwere Granitplatte legen, auf der später das Denkmal stehen sollte. In einer Zeremonie proklamierte Lenin 1920 die geplante Errichtung und würdigte Marx als Lehrer des Weltproletariats. Eine kurzerhand zuvor aufgestellte Statue soll wegen Baumängeln bereits eingestürzt sein.

Es kommt noch besser. In Petrograd/St. Petersburg wurde 1920 auf dem heutigen Schlossplatz der "Sturm" auf den Winterpalast nachinszeniert. Petrograd versank 1920 in Hunger und Chaos.

Die Inszenierung des Massenspektakels zum dritten Jahrestag der Revolution, inmitten der geschundenen Stadt und ihrer Bewohner, oblag dem russischen Theaterregisseur Nikolaj Evreinov (1879-1953). Nachgestellt werden sollte die heldenhafte Einnahme des Winterpalais, die es so niemals gegeben hatte.

Das gigantische Schauspiel begann um zehn Uhr abends und dauerte etwa sechs Stunden. Von 100.000 Zuschauern war später die Rede, es gab tausende Komparsen (einige Quellen sprechen von 7.000, andere von 10.000) und ein 500-köpfiges Orchester.

Aus dem Theaterereignis wurde im Nachhinein "Historie". Dokumente der Inszenierung, Materialien involvierter Kulturschaffender sowie Memoiren beteiligter Regisseure legen ein beredtes Zeugnis von der Prägekraft gefakter Geschichtsbilder ab.

Das Fachportal H-Soz-Kult schreibt:

Die Texte (die erwähnten Schriftzeugnisse des Spektakels) dokumentieren den schieren Größenwahn der politischen Entscheidungsträger, die es für möglich erachteten, im von Not und Bürgerkrieg geplagten Petrograd ein ressourcenzehrendes "Revolutions-Mysterium" abzuhalten.


Gleb J. Albert (DFG-Forschergruppe Medien und Mimesis): Sturm auf den Winterpalast: Geschichte als Theater, Rezension 2018

Was denkt Putin?

Und wie ist es heute? Im postsowjetischen Zarenreich eines Großmannssüchtigen? Greift "Putinland" (so ein aktueller Buchtitel) auf den Mythos vom triumphalen Anbruch der Revolution zurück?

Nein, sagen zeitgenössische Beobachter übereinstimmend. Etwa die Osteuropa-Historikerin Ekaterina Makhotina, die in Bonn zur russischen Geschichtspolitik forscht. In einem Beitrag für das Magazin APuZ (Aus Politik und Zeitgeschichte) über die Erinnerung an die Revolution im heutigen Russland schreibt sie (2017):

Russlands (heutige) Geschichtspolitik besteht aus dem gezielten und selektiven Rückgriff auf die stolzen und glorreichen Ereignisse einer tausendjährigen Geschichte. Bindeglied dieses Rückgriffs ist die militärische Ruhmesgeschichte Russlands, die anhand von siegreichen Schlachten und Kriegsherren erzählt wird.

Im Zentrum des Narrativs (heute) steht die Erinnerung an den "Großen Vaterländischen Krieg" zwischen 1941 und 1945. Da die Kriegserinnerung auch im biografischen und alltäglichen Gedächtnis der Russen den wichtigsten Platz einnimmt, können sich viele Menschen mit diesem Narrativ identifizieren.


Ekaterina Makhotina, Erinnerung an die Russische Revolution im heutigen Russland. Aus: Politik und Zeitgeschichte / bpb.de, 17.08.2017

Wladimir Putin selbst distanzierte sich im Januar 2016 anlässlich einer Präsidialsitzung dezidiert von Lenin, indem er Folgendes mitteilte:

Die Kontrolle des Gedankenflusses ist richtig, es ist nur notwendig, dass dieser Gedanke zu den richtigen Ergebnissen führt, nicht wie bei Wladimir Iljitsch (=Lenin). Schließlich führte dieser Gedanke am Ende zum Zusammenbruch der Sowjetunion, das ist es, was er bewirkt hat.

Es gab eine Menge solcher Gedanken (…) Man hat eine Atombombe unter das Gebäude gelegt, das Russland heißt, die dann explodiert ist. Auch die Weltrevolution brauchten wir nicht.


Wladimir Putin im Januar 2016 nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax in der Sitzung des Präsidialrates für Wissenschaft und Bildung

Also lieber keine Weltrevolution? Ende desselben Jahres (2016) konkretisiert Putin seine Ansicht noch einmal folgendermaßen, indem er die "nationale Eintracht" beschwört:

Die historische Lehre der Revolution besteht in der "Versöhnung" und der "nationalen Eintracht".


Wladimir Putin, Rede vor der Föderalversammlung, 1. Dezember 2016

Die Quintessenz dieser politischen Umdeutung lautet nach Makhotina: "Versöhnung". Versöhnung, sagt sie, wird hier zur sinngebenden Logik der Revolutionserinnerung. Das dient klar dem einen Ziel: Der Stärkung des Nationalbewusstseins und der Aufrechterhaltung des Status Quo.

In dieses System getürkter "Versöhnung" passt nicht der Wunsch nach Veränderungen. Weder in Richtung einer neuen Oktoberrevolution, noch im Sinne eines Alexej Nawalny.

Die Rote Revolution – Traum und Albtraum

Nach Angaben des regierungsnahen russischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM ("Allunions-Meinungsforschungszentrum") betrachteten 100 Jahre nach der Oktoberrevolution 46 Prozent der Russen die Folgen des Umsturzes von 1917 positiv, 46 Prozent negativ (Stand 2017, Frankfurter Rundschau).

Die unabhängige Internetplattform дekoder (Russland entschlüsseln) schreibt:

Forschungskontroversen um die Revolutionen von 1917 entzündeten sich unter anderem daran, ob das Ende des Imperiums systemisch bedingt oder ob der Erste Weltkrieg entscheidend für die Ereignisse von 1917 war. In jüngerer Zeit sind beide Revolutionen des Jahres 1917 zudem als Teil eines "Kontinuums der Krise" (Peter Holquist) zwischen 1914 und 1921 interpretiert worden. In dieser Perspektive waren die Revolutionen eine Zeit kurzlebiger Hoffnungen und Utopien, vor allem aber waren sie Teil einer umfassenden sozialen und kulturellen Krise.


https://www.dekoder.org/de/gnose/russland-oktoberrevolution-1917

Noch einmal 1917. Die Arbeiterkolonnen sangen (so schildert es Paustowskij):

Von Arbeiterhand ward geschaffen

Der Grund, auf dem Throne stehn.

Wir schmieden uns selber die Waffen,

können selber Patronen uns drehn.


Konstantin Paustowskij, a.a.O., S. 15

Dem martialischen Siegeszug der Bolschewiki kam schon bald jedes Charisma abhanden. Die Revolution endete im Staatssklaventum. Propaganda und brutale Knebelung und Überwachung wurden zu zwei Seiten derselben Medaille; der ursprüngliche revolutionäre Impuls, der Traum von Gleichheit und Gerechtigkeit, erstarrte im Dogmatismus.

Die 1948 geborene Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch nannte später den Sowjetmenschen "ein(en) Schmetterling in Zement."

Lenin bezog am 11. März 1918 im Kreml seine Wohnung. Zur gleichen Zeit bezog die Tscheka, das gefürchtete "Schwert der Revolution", ihr Hauptquartier im der Moskauer Lubjankastraße. Die Bolschewiken hießen nun offiziell "Russische Kommunistische Partei". Sie waren unter Lenin als Sieger hervorgegangen.

Der russische Bürgerkrieg wütete noch bis 1921 und kostete weitere Millionen das Leben. Ende 1922 bestätigte der Allunionskongress der Sowjets den Vertrag über die Gründung der UdSSR durch den Zusammenschluss von Russland, Weißrussland, der Ukraine und Transkaukasien.

Die Sowjetunion war geboren.