Als "Russlandversteher" den Krieg überstehen

Wer sich für Kontakte zwischen Russen und Deutschen eingesetzt hat, steht vor den Trümmern seiner Arbeit. Nun braucht es Konzepte für eine friedlichere Nachkriegszeit

Es sind keine einfachen Zeiten für hierzulande mit leicht spöttisch-, neuerdings auch mitleidigem oder gar boshaftem Grinsen als "Russlandversteher" bezeichnete Menschen, die sich jahre-, jahrzehntelang für ein gutes Verhältnis zwischen Russen und Deutschen einsetzt hatten.

Seit Beginn des Angriffskrieges "ihres Landes" auf die Ukraine wirkt die Szene wie paralysiert. Der langjährige Vorsitzende des Deutsch-Russischen Forums (DRF), Matthias Platzeck, erklärte nach Kriegsbeginn umgehend seinen Rücktritt; das desorientierte DRF befindet sich nun in einer schwierigen Phase der Um- und Neuorientierung, die mindestens einige Monate in Anspruch nehmen wird.

Die (wenigen) Menschen, die in der Vergangenheit noch dafür warben, die russische Sicht der Dinge zumindest mal zur Kenntnis zunehmen, sind entweder freiwillig auf Tauchstation oder längst aus dem Leitmediendiskurs verbannt.

Und wer es auch jetzt noch wagt, zu erklären, dass dieser schreckliche Krieg eine lange Vorgeschichte hat, an der auch der Westen nicht schuldlos ist, riskiert es, zum Paria abgestempelt zu werden.

Es ist die Zeit der abgesagten Lesungen, der Geständnisse, der verordneten öffentlichen Selbstkritik. Der sich selbst höchste Repräsentanten von Staat und Gesellschaft unterziehen müssen. Leute wie der forsche (und medial omnipräsente) ukrainische Botschafter schaffen es – mit starkem Rückenwind aus Presse, Rundfunk und Fernsehen – spielend, sogar den Bundespräsidenten vor sich herzutreiben! (Mit Angela Merkel hat das noch nicht so ganz geklappt, aber man kann sicher sein, dass im Hintergrund mit vereinten Kräften daran gearbeitet wird …)

Der "Russlandversteher" – Zur Genese einer Abwertungsvokabel

Aber wer oder was ist eigentlich ein "Russlandversteher"?

Zunächst einmal, auch wenn es penetrant oberlehrerhaft klingen mag: Das korrekte – und schöne – Substantiv für das Verb "verstehen" lautet bekanntlich immer noch: "Verständnis"! Und nicht anders.

Das Wort "Versteher", soviel "Germanistik für Dummies" muss sein, gibt es erst seit circa 25 Jahren und war von Anfang an abwertend konstruiert. Es begann mit dem berühmten "Frauenversteher", womit jener bemitleidenswerte Jammerlappen gemeint war, der Nähe zu Frauen (in welcher Form auch immer) nur herstellen kann, indem er sich – gefragt oder ungefragt – in die Damen noch besser einfühlt, als die das selber vermögen. Kurz: ein Mann mit dem Sexappeal eines "Warmduschers" – auch so eine Abqualifizierungsvokabel aus jenen Tagen.

Einmal in die Welt gesetzt, war es dann, namentlich in Krisenzeiten, zum "Russland-" oder gar "Putinversteher" nicht mehr weit. Ein Wort, ohne das heute niemand mehr auskommt, wenn es darum geht, Menschen, die sich um ein besseres Verhältnis zu Russland bemühen, prompt der Lächerlichkeit preiszugeben. Ohne Auseinandersetzung mit deren Argumenten, versteht sich.

Und eine Vokabel, die umgekehrt die so apostrophierten Personen dazu zwingt, zum gefühlt hundertundfünfzigsten Mal klarzustellen, dass "Verstehen" nicht "Rechtfertigen" bedeutet, sondern schlicht den Versuch, sich einmal in die Schuhe des Anderen zu stellen und die Welt probeweise aus dessen Perspektive wahrzunehmen – eine für jegliches menschliches Zusammenleben unabdingbare conditio sine qua non!

Erste Hilfe: Retten, was zu retten ist!

Wie auch immer: Wem es auch jetzt noch eine Herzensangelegenheit ist, dass zumindest die jahrzehntelang mühsam aufgebauten zwischenmenschlichen Kontakte überleben, der kann sich Resignation, gar Selbstmitleid nicht leisten.

In diesen Zeiten eines im Worst Case nicht mehr eingrenzbaren Krieges mitten in Europa, in dieser Zeit, in der Putins Herrschaftssystem von der Autokratie endgültig in die Diktatur kippt, in der immer mehr aufrechte Menschen das Land verlassen und in der hüben wie drüben die Medien zum Halali blasen, können wir zunächst nichts Anderes tun, als überall, wo das überhaupt noch möglich ist, zur Schadensbegrenzung beizutragen:

In den – noch nicht gecancelten oder auf Eis gelegten – Städtepartnerschaften, in den wenigen noch verbliebenen Wirtschaftskontakten, im Jugendaustausch, im Sport, in den Kulturprojekten, im interkonfessionellen Dialog und nicht zuletzt in den allerprivatesten Beziehungen.

Und zwar im vollen Bewusstsein, dass auch die verbliebenen Kontakte jederzeit vom Krieg vergiftet zu werden drohen. Schon zu gemütlichen Friedenszeiten gibt es kaum ein Thema, über das man sich so sehr entzweien kann, wie die Politik! Aber wie patriotisch oder ideologisch auch immer die Situation jetzt aufgeladen sein mag – jede Möglichkeit des Kontaktes zwischen beiden Seiten muss genutzt werden.

Alle Formen der Kooperation müssen weitergehen, selbst dann – und das erfordert eine willentliche Entscheidung –, wenn dies mit einer zeitweisen Ausblendung strittiger Themen erkauft sein sollte. "Business as usual" kann in einer akut zugespitzten Krisensituation eine erste deeskalierende Maßnahme sein.

Wir werden lange überwintern müssen. Unter erheblich schwierigen Bedingungen. Zumal auch Kommunikationskanäle wie Reisemöglichkeiten immer mehr eingeschränkt werden. Aber es gibt dazu keine Alternative. Es sei denn, der kommende zweite Kalte Krieg soll sich auch noch in den Köpfen und Seelen der Menschen dies- und jenseits des neuen Eisernen Vorhanges festsetzen, gar verewigen.