Als "Russlandversteher" den Krieg überstehen
Seite 2: Die Konzeptionslosigkeit des Westens
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Irgendwann wird auch dieser Krieg zu Ende sein. Die Frage ist: Wann, zu welchem Preis, mit wie viel weiteren Toten, Verwundeten, Flüchtlingsströmen und Zerstörungen jeglicher Art? Und wie die geopolitische Landschaft in Europa und der ganzen Welt dann aussehen wird. Wozu nicht zuletzt auch die globalen ökonomischen Folgen, einschließlich rasant steigender Energiepreise und zunehmend knapper werdender Nahrungsmittel sowie die daraus resultierenden sozialen Verwerfungen gehören werden.
Wer hier nicht alles dem Lauf der akuten Eskalation überlassen will, täte gut daran, schon jetzt realpolitische Konzepte für eine Nachkriegszeit zu entwerfen.
Im Moment aber fahren alle politischen Akteure auf Sicht. Außer einer wahren Sanktions- und Aufrüstungsorgie scheint der Westen über kein strategisches Konzept zu verfügen, was in der Ukraine denn eigentlich anzuvisieren sei: Geht es um einen möglichst schnellen Stopp der Kampfhandlungen, des Blutvergießens?
Um einen Waffenstillstand und anschließende Friedensverhandlungen im Sinne der Forderung des Ex-Vorsitzenden des Nato-Militärausschusses, General Harald Kujat: "Der Krieg darf niemals die Politik ersetzen! Wir benötigen ein Verhandlungsergebnis, das für Stabilität und Frieden sorgt"? (Er verband dies mit der bitteren Diagnose: "Aber die Politik sitzt da und tut nichts!")
Oder geht es darum, Russland zu bestrafen? Soll der Krieg noch wochen-, monate-, gar jahrelang weitergehen? Soll den russischen Aggressoren ein zweites Afghanistan – sowjetischer oder gar westlicher Couleur – beschert werden? Geht es um die Vertreibung der russischen Truppen aus der Ukraine? Wenn ja: inklusive der Rebellenrepubliken im Donbass? Am besten auch noch aus der Krim? Geht es am Ende um den Sieg über Russland? Oder wie EU-Außenminister Josep Borrell am 9. April auf Twitter tönte:
This war will be won on the battlefield?
An markig dröhnenden Parolen herrscht jedenfalls kein Mangel. An moralisierenden Imperativen, dieses oder jenes umgehend zu tun bzw. zu lassen, ebenfalls nicht.
Die große Vision: Helsinki 2.0
Dennoch: Es wird ein Leben nach dem Krieg geben – wann auch immer das sein mag! Fragt sich nur, wie es für alle direkt und mittelbar involvierten Akteure aussehen wird.
Vielleicht wäre es hilfreich, sich einmal an die Zeit nach dem Einmarsch der Sowjetunion und den mit ihr verbündeten Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei zu erinnern, die Zeit, nachdem im August 1968 Panzerketten den Prager Frühling niedergewalzt hatten.
Damals gab es im Westen Männer, die den Mut hatten, antizyklisch zu denken und zu handeln. Willy Brandt und Egon Bahr starteten wenig später ihre Entspannungspolitik, die in den Siebzigerjahren ein bedeutendes Resultat zeitigte: Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki im Sommer 1975.
Dort einigten sich alle europäischen Staaten blockübergreifend auf verbindliche Spielregeln wie Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen, die territoriale Integrität der Staaten, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und Achtung der Menschenrechte.
Ein solches "Helsinki 2.0", sprich: eine komplette Neujustierung der gesamten europäischen Sicherheitsstruktur unter dem Primat der Gemeinsamen Sicherheit, ist auch heute wieder dringend geboten!
Der Punkt Null, an dem sich nun alle befinden – wir denken jetzt sehr optimistisch, aber dazu sind wir angesichts einer mangelnden vernünftigen Alternative verpflichtet –, könnte im optimalen Fall auch der Startpunkt für den Turnaround werden, wenn sich überall wieder die Einsicht durchsetzen sollte, dass Sicherheit in der Tat nur gemeinsam möglich ist. Anderenfalls werden alle verlieren – außer der Rüstungsindustrie und vielleicht den USA.
Die Idee einer neuen hochrangigen Konferenz, die "ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten und auf verschiedenen Ebenen über das Ziel einer Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur berät", stammt übrigens noch aus der Vorkriegszeit und wurde unter anderem Anfang Dezember letzten Jahres von einer Gruppe prominenter ehemaliger Generäle und Botschafter in die Öffentlichkeit lanciert.
Die Vorschläge sind durch Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine nicht etwa überholt, sondern noch dringlicher geworden. Sie sollten umgehend ausgearbeitet werden.
"Russlandversteher" hätten hier über die notwendigen Erste-Hilfe-Maßnahmen hinaus einen verlässlichen Kompass, wohin die Reise gehen muss, wenn ein Kalter Krieg 2.0, eine erneute tiefe Spaltung des Kontinents und ein extrem gefährliches – auch atomares – Wettrüsten doch noch verhindert werden soll. Sie sollten für diese Perspektive nach allen Seiten hin intensiv werben.
Denn: Resignation können wir uns nicht leisten. Und Arbeit gibt es mehr als genug!