Am 10. September begann der erste Testlauf des Large Hadron Colliders am CERN
Zur Inbetriebnahme des weltweit leistungsstärksten Teilchenbeschleunigers - Teil II
Auf den heutigen Tag haben mehr als 10000 Quantenphysiker hingearbeitet, ihm entgegen gefiebert, ihn herbei gesehnt. Nun schlägt die Stunde der Wahrheit, die Picosekunde der Quanten. Am europäischen Forschungszentrum CERN bei Genf absolviert nach knapp 10-jähriger Bauphase der weltweit leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger, der Large Hadron Collider (LHC), seinen ersten Testlauf. Am 21. Oktober dieses Jahres folgt die offizielle Einweihung der Anlage. Dann hoffen die Forscher auf überraschende Erkenntnisse über den Aufbau der Materie und die Entstehung des Universums. Vor allem hoffen sie auf das "Gottesteilchen", das das Standardmodell der Teilchenphysik retten soll.
In seinem vielbeachteten und lesenswerten Buch "Quanten sind anders. Die verborgene Einheit der Welt" entführt uns der Physiker und Telepolis-Special-Autor Thomas Görnitz, Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a. M., in die bizarre Welt der Quanten, wo sich im Diesseits eine jenseitige irreale Welt eingenistet hat, in der scheinbar eigene physikalische Gesetze herrschen.
Die irreale Welt der baryonischen Materie
Was soll man auch schon von höchst schwer observierbaren Kleinstpartikel halten, die sich erst im Augenblick ihrer Messung entscheiden, wo oder "was" sie sind, und von denen keiner genau weiß, wie groß und massereich sie sind?
Bei alledem kommt der Teilchenzoo als sehr unübersichtliches und artenreiches Gebilde daher, bei dem selbst der geneigte Teilchenphysiker schon einmal schnell den Überblick verlieren kann. Die kleinsten Bausteine der baryonischen Materie, der gewöhnlichen, leuchtenden Materie des Universums, aus denen alle chemischen Elemente aufgebaut sind, haben es in der Tat in sich. Da haben wir zunächst einmal die Welt der Atome: ein simpler Subkosmos aus Elektronen, Protonen und Neutronen. Eine Ebene darunter tummeln sich die Quarks, die wiederum Protonen und Neutronen zu dem machen, was sie sind. Genauer gesagt kennen wir bislang 12 verschiedene Sub-Elementarteilchen: sechs Quarks und sechs Leptonen, die sich in je drei "Familien" oder auch "Generationen" aufteilen.
In jeder Familie fristen zwei Quarks und zwei Leptonen ein subatomares Dasein. Doch die Familienverhältnisse sind noch etwas verzwickter. Denn das Standardmodell der Elementarteilchenphysik beschreibt die Materie im Kosmos durch acht fundamentale Objekte, die Mitglieder der ersten von drei Quark-Lepton-Familien sind. Dazu gehören die "Up- und down-Quarks", die Konstituenten der Protonen und Neutronen und das Elektron. Nicht zu vergessen die exotischen, nahezu masselosen Neutrinos, die wie die Elektronen zur Familie der Leptonen gerechnet werden. Von den Feldquanten der die Wechselwirkung vermittelnden Kraftfelder sind nur das Photon und das Graviton masselos, entsprechend der unendlichen Reichweite des Gravitationsfeldes und des elektromagnetischen Feldes.
Unerwünschter Schönheitsfehler
Theoretisch könnte sich eine Ebene darunter noch das Universum der Strings erstrecken, jener hypothetischen Gebilde, die im Gegensatz zu den bekannten Elementarteilchen nicht punktförmig sind, sondern eine Ausdehnung in einer fadenförmigen Schlaufe (String) oder in zwei Dimensionen (Membran) besitzen.
Kein Wunder also, dass es Wissenschaftlern zunehmend schwerer fällt, all diese Partikel mittels einer Theorie unter einen Hut zu bringen und einheitlich zu beschreiben. Der Vorgänger des LHC am CERN, der Large Electron Positron Collider (LEP), vor acht Jahren abgeschaltet, bestätigte zwar das Standardmodell der Elementarteilchenphysik und konnte - abgesehen von der Gravitation - alle Kräfte zwischen Leptonen und Quarks recht präzise bestimmen, dennoch mussten die Theoretiker und Experimentalphysiker bis heute mit einem Schönheitsfehler leben. Denn die Frage, woher die im LEP observierten Teilchen (aber auch alle außerhalb) ihre Masse beziehen, blieb stets unbeantwortet.
"Wir haben ein mathematisches Gerüst in der Teilchenphysik, das die Wechselwirkung zwischen den Teilchen erklärt. Das funktioniert hervorragend, aber leider nur für masselose Teilchen", sagt DESY-Forschungsdirektor Rolf Heuser. Um dieses Defizit auszugleichen, versahen die Teilchenphysiker ihre Modelle mit einem unbekannten Partikel. So wie einst die Neutrino-Forscher zunächst einmal ihr "Gottesteilchen" im Modell vorhersagten und später experimentell nachweisen konnten, erhoffen sich die Physiker vom LHC den Nachweis ihres hypothetischen Teilchens. Sie träumen von der Entdeckung des so genannten Higgs-Bosons.
10000 aus 85 Ländern
Auf die Entdeckung dieses Partikels hoffen ab heute all jene Forscher, die in den nächsten Jahre mit dem etwa drei Milliarden Euro teuren Large Hadron Collider (LHC) das bunte Treiben im Quantenkosmos, in dem nichts so ist, wie es zu sein scheint (oder umgekehrt), beobachten und messen wollen. Und es sind beileibe nicht wenige, die an dem Projekt mitwirken und bislang mitgewirkt haben. Allein 10000 Wissenschaftler und Ingenieure aus 85 Ländern haben bereits mehr als 10 Jahre lang an dem LHC und seinen Experimenten gearbeitet.
Einer von ihnen ist Stefan Tapprogge von der Arbeitsgruppe Experimentelle Teilchen- und Astroteilchenphysik (ETAP) der Universität Mainz. Er erlebt heute beim CERN die Inbetriebnahme des LHC. "Wir erwarten jetzt natürlich mit Spannung den Zeitpunkt, wenn der erste Protonenstrahl eingeschossen wird und den Beschleunigerring auf der vollen Länge von 27 Kilometern durchläuft und dabei auch das ATLAS-Experiment passieren wird."
Kälter als das kosmische Vakuum
Wenn demnächst also in einer Tiefe von 50 bis 150 Metern in dem Tunnelring Protonen auf 99,9 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden, um mit anderen Partikeln zu kollidieren, sind Überraschungen programmiert. Zumindest werden die Physiker, wie es die US-Physikerin Lisa Randall unlängst auf den Punkt brachte, "in physikalische Regionen vordringen, die noch nie zuvor ein Mensch beobachtet hat."
Um in diese physikalisch fremden Welten einzutauchen, haben die CERN-Forscher neue technische erschließen müssen. So waren beispielsweise 1200 supraleitenden Dipolmagneten nötig, um ein Magnetfeld zu generieren, das sage und schreibe 100.000-mal stärker ist als das der Erde. Zudem mussten besagte Magnete sogar auf minus 271 Grad Celsius abgekühlt werden. Und dies stellt nur einen geringen Teil des Aufwandes dar, der zu leisten war, damit die Protonen demnächst den 26659 Meter langen Ring binnen einer Sekunde 11245 Mal umlaufen können.
Stichtag: 21. Oktober 2008
Während beim ATLAS-Experiment, der neben dem ALICE-, dem CMS- und dem LHCb der vierte große Nachweisanlage am LHC, in den nächsten Tagen und Wochen die Systeme gecheckt und getestet werden, müssen sich Proton & Co. noch ein wenig in Geduld üben. Sie werden erst ab dem 21. Oktober, wenn der LHC seine wissenschaftliche Arbeit offiziell aufnimmt, ihre Reise durch den Ringtunnel antreten. "Teilchenkollisionen wird es am Mittwoch aber noch nicht geben, sondern erst wenige Wochen später", erklärt Tapprogge.
Stattdessen werden die LHC-Forscher des ATLAS-Experimentes zunächst einmal das Trigger-System der Anlage testen, an dem die Mainzer Physiker bei der Elektronik und den Computersystemen maßgeblich mitgewirkt haben. Es soll später alle Auffälligkeiten der interagierenden Partikel registrieren, sofern diese überhaupt interagieren, sprich kollidieren. Alles muss aus dem Effeff funktionieren, alle Geräte perfekt kalibriert sein, damit selbst die kleinsten Unregelmäßigkeiten gemessen, beobachtet und dokumentiert werden können.
Derweil erwarten die LHC-Protagonisten, dass sich binnen eines Jahres ein Datenberg an CD-ROMs ansammeln wird, der aufeinander gestapelt eine Höhe von 20 Kilometern erreichte. Die Spreu vom Weizen zu trennen, wird für die Teilchenphysiker eine Herausforderung sein. Schließlich soll das LHC auf brandaktuelle Fragen Antworten geben: Ist die Natur supersymmetrisch, d.h. gibt es eine Symmetrie zwischen Teilchen und Kräften? Gibt es mehr als drei Raumdimensionen? Lassen sich Schwarze Mini-Löcher im Experiment wirklich künstlich generieren, so wie es die Theorie vorhersagt (auf diese Problematik nimmt der nächste Beitrag der LHC-Serie Bezug? Wie waren die Bedingungen zwei Mikrosekunden nach dem Urknall, als ein Quark-Lepton-Plasma als kosmische Ursuppe existierte?
600 Millionen Mal pro Sekunde
Denn im Konzert der eigenwilligen Partikel geben mehrheitlich Solisten den Ton an. Selten kommt es dazu, dass zwei aus der Reihe tanzen, miteinander kollidieren und irgendetwas Neues und Kreative schaffen. Selbst in hochkomplexen und sensiblen Beschleunigeranlagen lassen sich solche kurzfristigen "Duetts" nicht gezielt steuern. Immerhin prallen jede Sekunde 600 Millionen Mal Protonen mit anderen Partikeln aufeinander. "Dabei wird aber nur einmal pro Minute ein Higgs-Teil produziert. Eine Nadel im Heuhaufen ist dagegen leichter zu finden", vermutet Joachim Mnich vom Deutschen Elektronen-Synchrotrons (DESY), ohne den Konjunktiv zu strapazieren.
Kommt es zum Crash der Kleinstteilchen, dann klingt dies wie Musik in den Ohren der CERN-Physiker. Schließlich erhöht jede Kollision die Wahrscheinlichkeit, das bunte Treiben im Teilchenzoo nicht nur besser zu verstehen, sondern auch endlich das dubiose Higgs-Teilchen dingfest zu machen. Daher könnte das nach seinem Entdecker, dem britischen Physiker Peter Higgs (geb. 1929), benannte Partikel der Schlüssel zur quantenmechanischen Weisheit sein, denn derlei hypothetische massive Teilchen haben weder einen Spin noch eine Ladung, sind aber mit den Energiepaketen (Austauschteilchen) des Higgs-Feldes verknüpft.
Als letztes noch fehlende Teilchen im Standardmodell der Teilchenphysik sind Higgs-Bosonen zur mathematischen Konsistenz des Standardmodells unbedingt notwendig. Hierzu Rolf-Dieter Heuer (Interview).
"Wir wissen nun aber, dass Teilchen eine Masse haben und der Higgs-Mechanismus erklärt, wie Teilchen zu einer Masse kommen können. Der Higgs-Mechanismus beschreibt eine Wechselwirkung der Teilchen mit dem so genannten Higgs-Feld. Dieses Feld erzeugt durch die Wechselwirkung mit sich selbst wieder ein Teilchen, das Higgs-Teilchen. Wenn wir das Higgs-Teilchen finden, dann wissen wir, dass es den Higgs-Mechanismus gibt und damit haben wir die Erklärung im Standard-Modell für die Masse der Elementarteilchen."
Einblick in die Urphase des Kosmos
Noch mag sich keiner ausmalen, was geschähe, wenn die Higgs-Bosonen als Säule des Standardmodells der Teilchenphysik am LHC niemals gefunden würden und völlig unklar bliebe, woher die anderen Elementarteilchen ihre Masse beziehen. Dagegen würde der Nachweis eines einzigen "Gottesteilchen", wie Physiker das Higgs-Teilchen scherzhaft bezeichnen, die Existenz des Higgs-Feldes beweisen. Denn je nachdem, wie intensiv die uns bekannten Elementarteilchen mit diesem Feld in Wechselwirkung treten, werden sie schwerer oder leichter, werden sie elektrisch geladen oder nicht. Kurzum, alle Eigenschaften der Teilchen lassen sich vor dem Hintergrund, dass das gesamte Universum komplett und kontinuierlich von diesem Feld durchsetzt ist, plausibel erklären.
Ließen sich beim LHC-Experiment Higgs-Teilchen nachweisen, bekämen vor allem die Astrophysiker wertvolle Informationen über die Urphase des Kosmos. Bestätigt sich das Higgs-Feld-Modell, dann ist offensichtlich, dass die fundamentalen Eigenschaften der allerkleinsten Teilchen mit der Entwicklung des expandierenden Universums aufs Allerengste verbunden sind. Schließlich spielt das Higgs-Feld eine ganz besonders wichtige Rolle zu der Zeit, in der das Universum immer noch viel, viel kleiner ist als ein Atomkern - nur welche Rolle genau, bleibt gegenwärtig ein Geheimnis - vorerst. Quanten, sofern Higgs-Bosonen als solche zu bezeichnen sind, waren schon immer anders - sehr anders.