Am 8. Mai 1945 ging das Fieber zurück

Bild: Jose Antonio Gallego Vázquez/Unsplash.com

Das Ende des Zweiten Weltkriegs als Auftakt für eine Globale Gesundheit?

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Am 8. Mai 2020 jährt sich die Kapitulation der deutschen Wehrmacht zum 75. Mal. Dieses Datum markiert das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und wird als symbolischer Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus begangen. Den Feiertag soll es in Berlin nur dieses eine Mal geben. Das ist ein ganz besonderer, einzigartiger Anlass, über Gesundheit, Verantwortung und Gewissen zu reden.

Für Europa und die transatlantische Welt begannen nach der Epikrise Jahrzehnte des Friedens, des Wohlstands und der Stabilität. Sie brachten Chancen, die Voraussetzungen für eine gesunde Gesellschaft von Grund auf zu schaffen. Für Ostasien ging mit dem Nuklear-Anschlag auf Japan der klassische Kolonialismus in den Kalten Krieg und die Pax Americana über, die bis zur Jahrtausendwende dominierte. Im Osten endete der Zweite Weltkrieg erst am 3.September 1945. Gesundheit spielte hier danach soweit eine Rolle, wie sie für Sicherheit, Ordnung und Produktivität gebraucht wurde. Weite Teile der Welt, wie afrikanische oder zentralasiatische Länder, wurden nicht oder nur vereinzelt in diese Befreiungen einbezogen. Erst seit einem Jahrzehnt zeichnet sich mit Chinas "Gürtel-Weg" (One Belt One Road) eine reale geostrategische Macht mit dem Anspruch ab, die Weltordnung aus einer anderen kulturellen Herangehensweise neu zu gestalten.

Für Deutschland gab es nach dem 8.Mai 1945 ein großes, unverdientes Geschenk: Das Grundgesetz wurde auf den Weg gebracht. Dieses grandiose Stück Verfassungs-Kultur verpflichtet den Staat dazu, alles der Würde unterzuordnen. Wie es der Präsident des Bundestages Wolfgang Schäuble jüngst wieder in Erinnerung rufen musste: "Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar." Diese Würde ist die des Menschen, nicht die des reichen Europäers oder der privilegierten Amerikanerin, nicht die des Amtes oder des Erfolges.

Deutschland schuldet jedem Menschen weltweit, alle anderen Zwecke diesem Gut unterzuordnen, auch Profit, Lebensdauer, Partei-Interessen oder das Streben nach Selbstverwirklichung. Es trifft sich gut, dass die Weltgesundheitsorganisation "Gesundheit" als eine Gesamtheit global definiert: Sie beinhaltet die undefinierbare Subjektivität des Einzelnen in seiner sozialen Einbettung. Daher kann sie nie, auch nur im Ansatz, von Technik, Medizin oder Metrik allein standardisiert, erfasst und erfüllt werden. Sie liegt im inneren Wert der Qualität des guten Zusammenlebens.

Die Verständigung der Vereinten Nationen auf eine gemeinsame Agenda umfassender Nachhaltigkeitsziele (SDGs) 2015 ist ebenfalls ein großer Fortschritt. Sie schließt ethisch direkt an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 an, die erste umfassende qualitative Selbstverpflichtung der Weltgemeinschaft - seinerzeit unter Beteiligung von Juristen und Philosophen aus China, Kanada und Frankreich formuliert.

Der Bedarf an solchen Zielvereinbarungen wie den SDGs belegt aber die Schwächen und Mängel der globalen Realitäten, die wir seitdem zugelassen haben. In immer neuen Verfeinerungen und Klarstellungen werden nicht nur die Prioritäten dieses Zielekanons politisch neu verhandelt. Dabei fließen Erkenntnisse über die existentiellen Verwerfungen pathogener Verhaltensmuster wie Umweltzerstörung und ökonomische Fehlanreize in das Interpretationswissen ein.

Die Welt wird rund, verrät Zusammenhänge von Tiefsee und Wüsten, Verstädterung und Corona-Epidemien. Seit 20 Jahren trägt das Verstehen des Klimawandels besonders zum Nachhaltigkeits-Denken bei. Immer deutlicher wird, dass sämtliche Fragen sich signifikant im Querschnitt-Thema Gesundheit zusammenfinden. Dies ergibt sich nicht nur aus der ganzheitlichen Semantik und Anthropologie des Gesundheits-Begriffes, sondern auch aus der politischen Forderung der WHO, alle Entscheidungen mit der Berücksichtigung von "Health in all Policies" zu verbinden.

Wir wissen: 2017 starben 843.000 Chinesen an Diabetes. In China leiden 114 Millionen Menschen an dieser Krankheit, das ist ein Viertel der Diabetiker weltweit. Obwohl sie somit fast zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, ist nur gut jedem Dritten der Betroffenen bekannt, dass er an Diabetes leidet. 2011 starben 15% der Männer und 11% der Frauen an Folgen des Rauchens. 2015 verzeichnete jede Minute 11 tote Kinder unter 5 Jahren, größtenteils als Folge von Mangelernährung oder Menschen gemachter Katastrophen (Kriege oder Plagen).

Das sind Schlaglichter auf Gesundheitsprobleme, die einerseits schwerstes menschliches Leid und gravierende volkswirtschaftliche Schäden verursachen, andererseits aber sehr einfach zu vermeiden sind: denn sie sind fast vollständig vom Verhalten abhängig: also vom Wissen und Vorsorgen. Ernährung verlangt Zugang zu Nahrungsmitteln oder Kompetenz im Lebensstil (Zuckerkonsum, Bewegung); die Inhalation von Nikotin ist abhängig von minutiös geplanten Marktbedingungen, gesellschaftlicher Akzeptanz und Prävention; Kindergesundheit braucht elementarste Unterstützung - sie entfaltet die natürliche Salutogenese unter vielfältigsten Bedingungen.

Diesen drei Morbiditätsfällen ist gemein, dass sie wie alle menschlichen Verhaltensweisen auch von genetischen, kulturellen und sozialen Umweltbedingungen co-faktoriell beeinflusst werden. Früherkennung, Bildung, Gesundheitsmündigkeit verlangen keine hohen Investitionen, aber strukturelle Grundleistungen des Sozialsystems, die - wie man anhand der deutschen föderalen Bildungs- und Reformdebatten oder der sogenannten Entwicklungshilfe illustrieren kann - oft ideologisch gegen besseres Wissen geführt wird.

Im Jahre 2020 haben sich die Führungsmächte der Welt ein einzigartiges, globales Sozialexperiment geleistet. Zur Eindämmung der Folgen der COVID-19-Pandemie veranlassten sie ohne klare Evidenz die monatelange Schließung ganzer Industrien und Gesellschaftsbereiche. Dafür erfanden sie neue Quarantäne-Tatbestände, denn "Quarantäne" erhalten spezifisch erkrankte oder konkret verdächtigte Personen, keine Bevölkerungsgruppen aufgrund pauschaler Risikoprognosen; sie werden stets optimal diagnostisch und medizinisch begleitet, (§ 30 Abs. 1 IfSG) nicht aber hinter Schloss und Riegel verheimschult.

Die Gesundheits-, Sterbe- und Wirtschaftsbilanz sowie die Sekundärfolgen für Bevölkerungsgruppen wie Kinder, Menschen in geschlossenen Einrichtungen oder prekär Beschäftigte ist selbst in den Ländern des reichen Nordens nicht absehbar. Was durch deren Schwächung, bei gleichzeitig unterbliebenen Hilfen und direkten Schädigungen, in den ohnehin unterversorgten Gebieten angerichtet worden ist, wird die Auswertung dieses Experimentes bilanzieren.

Globale Gesundheit ist die Chance, sich auf der Höhe unserer Würde-Verpflichtung, durch die Gesundheits-Standards der WHO, nüchtern und ehrlich der Bestandsaufnahme zuzuwenden, was zum Zweck der Gesundheit in allen Bereichen der Weltwirtschaft, der Wissenschaft und der sozialen Sicherung getan werden muss. Das wäre die Voraussetzung für das, was heute erstmals möglich ist: eine weltweite Strategie für Gesundheit im umfassenden Sinne. Wie gut es um diese Chance steht, ist noch nicht zu sagen. Gemessen an den aktuell sichtbaren Maßnahmen, Geldflüssen und Anreizen sind sie wohl schlecht: denn diese verstärken weiter die Strukturen, deren salutogene Kompetenz an ihre Grenzen gestoßen ist.

So sagte es Wolfgang Schäuble: "Der Staat muss für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten. Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben." Eine gesunde Gesellschaft erfüllt die Verantwortung, dies in Würde zu ermöglichen: global.

Ole Döring ist ein Philosoph, Sinologe und Schriftsteller und Mitbegründer des Instituts für Globale Gesundheit Berlin (IGGB). Auf der Website des Instituts ist dieser Text zuerst erschienen.