Amnesty: Schwelle zum Ausnahmezustand "drastisch gesenkt"
Bericht zur Expansion der neuen nationalen Sicherheitsstaaten: EU-Antiterrormaßnahmen sind unverhältnismäßig und diskriminierend
Im Nachbarland Frankreich hat die sozialdemokratische Regierung am meisten ausgereizt, was Amnesty International im aktuellen Bericht als Aushöhlung lang erkämpfter Grundrechte beklagt. Dort wurde der Ausnahmezustand Mitte Dezember zum fünften Mal verlängert - bis Mitte Juli 2017.
In der Volksversammlung gab es gerade mal 32 Gegenstimmen gegenüber 288 Befürwortern. Die öffentliche Kritik war genau so leise. In Deutschland bekam man gar nichts davon mit. Wie man auch nichts von den Hausdurchsuchungen mitbekommt, die meist frühmorgens stattfinden, wenn die Bewohner Glück haben, bleibt die Tür einigermaßen unbeschädigt und das Trauma hält sich in Grenzen. Die Polizisten sind nicht immer freundlich.
Anzunehmen, dass 4.292 Hausdurchsuchungen (von November 2015 bis Dezember 2016) ausschließlich Personen galten, die mit einigem Grund mit Terrorismus in Zusammenhang zu bringen sind, ist naiv.
Die Polizei agiert politisch
Dagegen sprechen nicht nur die Recherchen von Amnesty, wonach zwischen November 2015 und Februar 2016 weniger als ein Prozent der bis zu diesem Zeitpunkt mehr als 3.000 Hausdurchsuchungen aufgrund eines Verdachts terroristischer Aktivitäten durchgeführt wurden, sondern auch die Hausdurchsuchungen (mit Hausarrest) bei militanten Umweltschützern im Vorfeld des Pariser Klimagipfels Ende November 2015.
Dass die Polizei hier politisch agierte und sich dabei Erleichterungen bediente (kein Staatsanwalt erforderlich, die Unterschrift des Präfekten genügt), die für einen ganz anderen Zweck, nämlich des Anti-Terror-Kampfes gedacht waren, verblasste in der größeren Erregung. Der Schock der Anschläge vom 15. November war noch sehr präsent. Die Begründung, wonach die Hausarreste der Sicherstellung der öffentlichen Ordnung dienten, wurde mehrheitlich akzeptiert. Hier und da gab es Proteste und kritische Zeitungsberichte.
"Die Terrorgefahr ist erhöht"
Sie hatten genauso wenig Gewicht wie die 32 Gegenstimmen bei der Abstimmung über die Verlängerung des Ausnahmezustands. Was galt und was gilt, ist der Satz, den Innenminister zusammen mit ihrer besorgten Miene ständig abrufbereit haben: "Die Terrorgefahr ist erhöht." (Selbstverständlich fiel der Satz auch bei der Abstimmung in der Assemblée Nationale).
Frankreichs Reaktion auf die Terroranschläge ist außergewöhnlich, wie es auch die Anschläge waren, aber, so eines der kardinalen Erkenntnisse des 70-seitigen Amnesty-Berichts, die Anti-Terrorgesetzgebung anderer europäischer Länder steht dem Exempel nicht weit nach. In der deutschen Zusammenfassung des AI-Berichtes Dangerously Disproportionate heißt es:
Viele EU-Länder unterscheiden sich kaum noch von "Überwachungsstaaten", indem sie Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten weitreichende Befugnisse zur anlasslosen Massenüberwachung ohne die notwendige rechtsstaatliche richterliche Kontrolle einräumen.
Amnesty International
Als Beispiele werden neben Frankreich aufgezählt: Großbritannien, Deutschland (das BND-Gesetz vom Juni 2016; vgl. Terror-Theater für Geheimdienst-Gesetze), Polen, Ungarn, Österreich, Belgien und die Niederlande. In all diesen Ländern seien "Befugnisse zur Massenüberwachung erteilt beziehungsweise erweitert worden, die das anlasslose Abgreifen und den Zugang zu den Daten von Millionen von Menschen erlauben", so Amnesty.
Die "neue Normalität"
Der Bericht, hinter dem nach Angaben der Organisation zwei Jahre Recherche stecken, stellt nicht nur die erweiterten Überwachungsbefugnisse heraus, sondern auch die Einschränkungen der Versammlungs- und Bewegungsfreiheit. Dies ist nicht nur im ständigen Ausnahmezustand in Frankreich möglich, sondern auch in anderen Ländern. Zitiert wird der Fall Ungarn, wo nach Ausrufen des Notstands nicht nur Versammlungs- und Bewegungsfreiheit eingeschränkt würden: "Geltende Gesetze können einfach ausgesetzt und neue im Eilverfahren erlassen werden."
Aber ist es nicht "normal", dass im Ausnahmezustand bzw. im Notstand Machtbefugnisse der Exekutivorgane ausgedehnt werden? Dazu liefert der Bericht eine Beobachtung, die die Wahrnehmung schärfen sollte. Die Schwellen, um Not- und Ausnahmezustände zu erklären, seien in vielen Staaten "drastisch gesenkt worden". Amnesty spricht in diesem Zusammenhang von einer "neuen Normalität".
"Die Bedrohung durch den Terrorismus ist sehr real und muss entschieden bekämpft werden", wird John Dalhuisen, der AI-Direktor für die Region Europa zitiert. Das ist Konsens. Der Bericht wurde vor dem Berliner-Anschlag auf den Weihnachtsmarkt abgeschlossen. Die aktuelle Diskussion etwa über neue Haftgründe für Gefährder wird also nicht berücksichtigt.
Kritik gegen Anti-Terrorgesetze auf schwierigem Posten
Zu beobachten ist, dass Kritiker in der neuen nationalen Sicherheitsdiskussion auf schwierigem Terrain stehen, der Vorwurf, dass sie mit ihren Bedenken oder Rassismus-Vorwürfen, die Sicherheit untergraben, ist schnell zur Hand.
Ob Amnesty-Berichte eine größere Wirkung auf politische Debatten ausüben, ist nicht einfach zu beantworten. Jeder entnimmt sich daraus, was in die Agenda passt, wie die Diskussionen über Amnesty-Berichte zu Menschenrechtsverletzungen in Syrien zur Genüge vorgeführt haben. Aber der aktuelle Bericht macht ein eigenartiges Phänomen gut kenntlich:
Einzeln beleuchtet sind viele Antiterrormaßnahmen besorgniserregend. Betrachtet man sie zusammen, ergibt sich ein verstörendes Bild. Für unsere Gesellschaften lange selbstverständliche Rechte werden nun unkontrolliert massiv eingeschränkt.
Die Aussage hat einen generalisierenden Ton und baut auf medienüblichen Jargon auf: "besorgniserregend", "unkontrolliert massiv". Aber sie schärft die kritische Wahrnehmung, die im Klima der Verunsicherung leicht abstumpft. Der generelle AI-Lagebefund, wonach der nationale Sicherheitsstaat in Europa expandiert und viele Sicherheitsgesetze überproportioniert und auch diskriminierend (meist gegen Muslime) sind, rührt an sehr empfindliche Punkte, die nicht in einem Parforce-Ritt zu überspringen sind.