Amri: Der "offenbare Attentäter" vom Breitscheidplatz

Seite 2: Ausreiseverbot für Amri wird wie ein Tabu behandelt

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Zum reichhaltigen Kapitel über die seltsamen Wege des angeblichen Attentäters Amri gehört seine Busfahrt Ende Juli 2016 von Berlin mit Ziel Zürich. Der widersprüchliche Vorgang an der deutsch-schweizerischen Grenze, wo dem ausreisepflichtigen Tunesier die Ausreise untersagt wurde, entwickelt sich mittlerweile zu einem regelrechten Tabu. Die Sache war bereits zum x-ten Mal Gegenstand im Untersuchungsausschuss des Bundestags.

Bei der jüngsten Sitzung am 13. Februar wurde ein Dienstgruppenleiter der Polizeiinspektion in Konstanz gehört, der nach eigener Erklärung die letztendliche Entscheidung getroffen habe, Amri nicht ausreisen zu lassen. Dennoch kann als sicher gelten, dass die Anweisung "von ganz oben" aus dem Bundespolizeipräsidium kam. Das belegen Formulierungen wie: "unbedingt die Ausreise untersagen".

Im Laufe jener Nacht vom 29. auf den 30. Juli 2016 nahm die Führungsspitze der Bundespolizei in Potsdam mehrmals Einfluss auf die Beamten vor Ort am Bodensee. Selbst wenn dabei auch einmal eine moderate Formulierung gewählt und etwa eine "Bitte" geäußert wurde, haben die untergeordneten Kollegen verstanden: Eine "Bitte" sei natürlich ein "höfliche Form des Befehls", so der Konstanzer Polizeihauptkommissar Thomas M. in vollkommen realistischer Einschätzung und ohne jede falsche Schonung. Er sprach auch von einem erkennbaren "Steuerungsbedürfnis des Präsidiums" der Bundespolizei.

Die Bundespolizei hatte zwei "Werkzeuge" (O-Ton Zeuge Thomas M.), um Amri an der Ausreise zu hindern. Erstens, weil er als Gefährder galt und es ein laufendes Verfahren wegen "politisch motivierter Kriminalität" gab. Auf diese Möglichkeit habe man verzichtet, um dieses verdeckt laufende Verfahren nicht offen zu legen. Deshalb griff man zum zweiten Werkzeug, den fehlenden Ausweisdokumenten. Amri hatte nur gefälschte Papiere bei sich.

Doch um was für ein "verdecktes Verfahren" handelte es sich? Das ist weiterhin unklar. Ging es etwa um ein Verfahren in Nordrhein-Westfalen, wo das Landeskriminalamt (LKA) Amri in der Ermittlungskommission "Eiba" führte? Oder verbarg sich dahinter vielleicht ein Verfahren des LKA Berlin wegen Amris Beteiligung an einem lebensgefährlichen Messerangriff am 11.Juli 2016?

Die Abgeordneten sind in den Unterlagen auf weitere Spuren eines unbekannten Hintergrunds gestoßen, beispielsweise ist die Rede von einem "Hinweis auf verdeckte Erkenntnisse als Gefährder". Um was für Erkenntnisse handelte es sich und wie wurden sie vor allem gewonnen? Durch Telefonüberwachung oder etwa eine Quelle? Zugleich heißt es an einer anderen Stelle wiederum, es gebe "keine konkreten Hinweise für eine Untersagung der Ausreise aus Sicht terroristischer Gewalt", Für die Abgeordnete Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) nicht nur reichlich kryptisch, sondern auch ein Widerspruch: "Man hat keine Hinweise auf terroristische Gewalt, untersagt aber vor diesem Hintergrund die Ausreise?"

Dann wurde es abenteuerlich. In einer Nachricht der Bundespolizeizentrale in Potsdam an die Dienststelle in Konstanz ist die Rede von einer "Ansehensschädigung". Wörtlich heißt es: "Aktenlage gibt eine Ansehensschädigung her." Wessen Ansehen wäre warum geschädigt worden? - fragte Benjamin Strasser (FDP). Daraufhin antwortete der Zeuge: Der Satz müsste heißen, die Aktenlage "gibt eine Ansehensschädigung nicht her" - es fehle das Wörtchen "nicht". Soll also das genaue Gegenteil gemeint gewesen sein?

Der anwesende Vertreter der Bundespolizei in den Reihen der Exekutive sah sich daraufhin veranlasst einzugreifen und erklärte, mit Ansehensschädigung sei gemeint, dass das Ansehen der Bundesrepublik Schaden nehmen könne, wenn ein Gefährder im Ausland Straftaten begehe, weil er nicht an der Ausreise gehindert wurde. Meist betreffe das aber deutsche Fußball-Hooligans, die im Ausland randalierten. Deshalb gebe es auch immer wieder Ausreiseverbote für Fußballfans. Er war aber gleichfalls der Meinung, in dem fraglichen Satz sei ein Wort vergessen worden und es müsste heißen, die "Aktenlage gibt keine Ansehensschädigung" her. Also das genaue Gegenteil.

Das ist nicht nur sehr freihändig, sondern erst recht fragwürdig: Warum sollte eine Verneinung extra formuliert werden? Den Abgeordneten Strasser beruhigte die Erklärung nicht. "Wenn Amri nicht die gefälschten Ausweisdokumente dabei gehabt hätte, hätte er also das Land verlassen können?", wollte er wissen, denn: "Auf was hätte man dann seine Ausreiseuntersagung stützen können?" Für den Ausschussvorsitzenden Klaus-Dieter Gröhler (CDU) eine "spekulative" Frage.

Doch der FDP-Abgeordnete war noch nicht zufrieden gestellt. Im Einsatztagebuch des Bundespolizeipräsidiums Potsdam ist unter der Uhrzeit 7:39 am 30. Juli der Anruf einer Frau aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) festgehalten, in dem von "keinen verwertbaren Erkenntnissen" die Rede war. Hatte der Inlandsgeheimdienst also "Erkenntnisse", die aber nicht "verwertbar" waren, weil sonst zum Beispiel eine Quelle hätte aufgedeckt werden müssen? Die Frage ist offen - und sie führt auch zu Amri: Wurde der Tunesier deshalb an der Ausreise gehindert, weil im konkreten Falle eine Quelle geschützt werden sollte? Bis dahin war niemals ein "Gefährder" durch die Grenzpolizei an der Ausreise gehindert worden.

War der Ausschuss hier ganz nahe an der Wahrheit? Denn allem Anschein nach muss die in dem unbekannten verdeckten Strafverfahren gegen Amri stecken. Das Aussageverhalten der Beteiligten legte nahe, dass hier möglicherweise etwas verschwiegen werden soll.

Als Chronist muss man ergänzen, dass nur wenige Abgeordnete an dieser Frage ein gesteigertes Aufklärungsinteresse hatten. Für Fritz Felgentreu (SPD) scheint der Vorgang ein "Schlüsselmoment" auf dem Weg hin zum Anschlag zu sein. Amri habe das Ausreiseverbot wohl als "Art göttliche Bestätigung für seinen Auftrag" begriffen, meinte er.

Amri kehrte nach seiner Blockade am Bodensee nach Berlin zurück - und er meldete sich obendrein erneut in Nordrhein-Westfalen bei der Ausländerbehörde in Kleve an. Das sagte der zuständige Kreisoberinspektor in der Ausschussitzung. Ein gewaltbereiter Dschihadist, der seit langem Anschlagspläne hegt, an einer Messerstecherei beteiligt war und davon ausgehen musste, dass die Polizei ihn verfolgte, meldet sich bei einer staatlichen Behörde? Eine weitere Verhaltensweise, die nicht so recht zu einem designierten Terroristen passt. Diesen seltsamen Weg beschritt Amri am 12. August 2016. Am 16. August erhielt er erneut eine Duldung. Er habe einen Duldungsanspruch gehabt, so der Vertreter der Behörde. Dabei habe es sich aber lediglich um die Aussetzung der Abschiebung gehandelt.

Zwei Tage später, am 18. August 2016, kam es wegen der Causa Amri im LKA Berlin zum Krisentreffen mit dem Leitenden Oberstaatsanwalt der Generalstaatsanwaltschaft von Berlin, Dirk Feuerberg. Während in den Reihen der Polizei vorgeschlagen wurde, einen Haftbefehl für Amri zu beantragen, auch weil der im Juli an dem Messerangriff beteiligt war, lehnte Feuerberg das kategorisch ab. Und zwar unter anderem mit dem Argument, man habe keine Wohnanschrift von ihm gehabt, an die man den Haftbefehl hätte zustellen können.

Der für Amri zuständige Klevener Kreisoberinspektor Josef K. berichtete im Ausschuss noch eine weitere fragwürdige Begebenheit. Im Jahr 2016 hatte er mit mehreren Sicherheitsbehörden seines Bundeslandes Kontakt aufgenommen, nachdem ein anonymer Anzeigeerstatter auf Amri aufmerksam gemacht hatte, weil der ihm verdächtig erschien. Josef K. führte Telefongespräche mit der Sicherheitskonferenz beim Innenministerium (SiKo), dem LKA und dem Staatsschutz in Krefeld. Von diesen Gesprächen habe er allerdings keine Vermerke gefertigt, weil die in die Akte aufgenommen werden müssten und jeder Antragsteller das Recht hat, die Akte einzusehen. Dadurch könnten behördliche Kontakte und Maßnahmen offengelegt werden. In der Leitung der Ausländerbehörde sei deshalb entschieden worden, über Gespräche mit der Polizei oder dem Verfassungsschutz keine schriftlichen Vermerke zu fertigen.

Ein undokumentiertes Behördenhandeln als Folge einer bedenklichen Parallelstruktur, die schwer mit rechtsstaatlicher Transparenz vereinbar ist.