Amri-Komplex: Wie die offizielle Tat- und Täterversion zur Falle wird
Im Untersuchungsausschuss des Bundestags demonstrieren Staatssekretäre, Innensenator und Ex-Bundesinnenminister, wie der Anschlag vom Breitscheidplatz für eine strengere Sicherheitsordnung benutzt wird
Im Verfassungsschutz von Mecklenburg-Vorpommern wurden zahlreiche Informationen unterdrückt, die eine menschliche Quelle in arabisch-stämmigen Kreisen in Berlin zum Anschlag vom Breitscheidplatz gewonnen hat. Die Informationen wurden nicht an das Partneramt in Berlin weitergegeben. Das kann als gesichertes Ergebnis mehrerer Sitzungen des Untersuchungsausschusses im Bundestag gelten. Stückchen für Stückchen fördern die Abgeordneten einen möglichen Hintergrund des Attentats auf den Weihnachtsmarkt zu Tage, das sich zum vierten Mal jährte.
Welche Erkenntnisse wiederum die Verfassungsschützer in der Hauptstadt selber über diesen Hintergrund bekommen haben, ist bislang im Dunkeln. Die Aufklärungsoperation des Inlandsgeheimdienstes lief seit Juni 2016 unter dem Namen "Opalgrün". Klar ist, ein Großteil der Informationen passt nicht mit der Anis-Amri-Einzelgänger-Anschlagsthese zusammen. Grund genug, diese Erkenntnisse offiziell abzuwerten oder geheim zu halten. Eine "Amri-Falle", die seit vier Jahren funktioniert, allen Zweifeln an dessen Täterschaft zum Trotz.
Im mecklenburgischen Verfassungsschutz (VS) sind deshalb aber Differenzen aufgebrochen und haben zu schweren Turbulenzen geführt, die mittlerweile auch das Landesinnenministerium erfasst haben. Diese Turbulenzen setzen zugleich die seit fast vier Jahren verborgen gehaltenen Hintergründe frei. Das dokumentierte eindrucksvoll der Zeugenauftritt von Staatssekretär Thomas Lenz aus Schwerin jetzt im Untersuchungsausschuss.
In der vorangegangenen Sitzung hatten der Leiter des Verfassungsschutzes als auch der Staatssekretär sowohl die betroffenen ehemaligen VS-Mitarbeiter, deren Informanten sowie die von ihm beschafften Informationen zum Teil auf befremdliche Art und Weise diskreditiert. Die Abgeordneten haben dagegen von den unteren Beamten einen völlig anderen Eindruck. Für sie sind sie glaubwürdig.
In seinem ersten Zeugenauftritt hatte der Staatssekretär das Verhalten des VS-Chefs im Ausschuss selber "unsäglich" genannt. Das tat ihm nun bei der Fortsetzung seiner Vernehmung leid. Es unterstreicht nur den Ausnahmezustand, in den die Sicherheitsbehörden geraten sind.
Ein verhängnisvoller Zusammenhang
Was die Sache selbst angeht, sprach Lenz zunächst weiterhin von "nicht werthaltigen" Informationen jener VS-Quelle. Dass die auf einer "falschen Spur" gewesen sei, habe ja das "Ergebnis" gezeigt. Mit Ergebnis meinte er die offizielle Tat- und Täterversion, die wie eine Falle funktioniert. Wer die offizielle Version kritiklos akzeptiert, muss Details, die damit nicht zusammenpassen, aussondern. Wer stattdessen jedoch ergebnisoffen aufklären will, kommt möglicherweise zu einer anderen Tat- und Täterversion. Doch dann muss man sich mit denjenigen anlegen, die die offizielle Anschlagsversion vertreten.
Ein verhängnisvoller Zusammenhang. Denn dabei handelt es sich um gewichtige Gegner: Bundeskriminalamt (BKA), Bundesanwaltschaft, Innensenatoren und Innenminister, wie sich auch im Verlauf der Ausschusssitzung zeigte. Dem Staatssekretär von Mecklenburg-Vorpommern folgten als Zeugen der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Hans-Georg Engelke, Berlins Innensenator Andreas Geisel und der Ex-Bundesinnenminister Thomas de Maizière.
Alle vertreten die These: Anis Amri habe den polnischen Speditionsfahrer erschossen, sich des LKW bemächtigt, sei durch den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz gerast und dann durch halb Europa geflohen. Ganz alleine, ohne Mitwisser oder Helfer vor Ort.
"Anderen Aspekte" und "Großes Besteck"
Der Spitzel aus Mecklenburg-Vorpommern (M-V), der immer wieder in Berlin unterwegs war, berichtete Dinge, die eine andere Geschichte erzählen: Eine arabisch-stämmige Großfamilie in Berlin sei in das Attentat verstrickt, Anis Amri sei in ihren Kreisen gesehen worden, ebenso Bilel Ben Ammar. Für das Attentat habe es Geld gegeben, anschließend Hilfe bei der Flucht mittels Pkw. Der Informant habe sogar Angaben zur Marke und Farbe des Pkw sowie dem Fahrer gemacht - und zwar schon im Februar 2017.
Allerdings leitete das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) von M-V nicht sämtliche Informationen ans LfV in Berlin weiter, nur die, dass Amri Kontakt zu der Familie gehabt habe. Relevante Informationen wurden zurückgehalten. Weil der Untersuchungsausschuss inzwischen manches schwarz auf weiß vorliegen hat, musste es auch der Staatssekretär, damit konfrontiert, einräumen.
Doch deshalb, so der Ausschuss weiter, sei auch die Antwort der Kollegen aus Berlin nach Schwerin wertlos, weil die sich lediglich auf Amri beziehe und nicht auf die anderen Aspekte. Das LfV Berlin hatte im März 2017 zurückgemeldet, man habe kein Kennverhältnis Amris mit der Großfamilie feststellen können. Die Abgeordneten sind im Gegenteil inzwischen sogar der Auffassung, die Beziehung Amris zu der Familie sei über ein reines Kennverhältnis weit hinaus gegangen.
Was das LfV Berlin damals selber unternommen hat, weiß man bisher nicht. Die notwendigen Zeugenvernehmungen stehen aus. Aus dem Mund der M-V-Vertreter war lediglich zu hören, dass die Berliner mit dem "großen Besteck" versucht hätten, alles aufzuklären, jede "Maus" und jeder "Elefant" sei identifiziert worden, Amri sei nicht darunter gewesen. "Großes Besteck" meint üblicherweise das ganze nachrichtendienstliche Instrumentarium Spitzeleinsatz, Telefonüberwachung, Observation. Die Maßnahmen, zumindest das ist bisher bekannt, liefen bis wenige Tage vor dem Anschlag.
Ins Rollen kam die Affäre, weil sich der Ex-VS-Mann T.S. der Behörden- und Regierungshierarchie widersetzte und sich im Oktober 2019 persönlich an den Generalbundesanwalt wandte - in gewisser Weise ein Whistleblower. Staatssekretär Lenz hatte bei seinem ersten Zeugenauftritt T.S. deshalb "Erpressung" vorgeworfen. Der soll daraufhin Strafanzeige gegen Lenz erstattet haben. Der Staatssekretär wiederum spricht von "Geheimnisverrat" des Beamten. Er entließ ihn aus dem Landesverfassungsschutzamt.
Dass Lenz im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern aus einem nicht freigegebenen Schreiben des LfV Berlin zitierte, nannte wiederum Ausschussmitglied Benjamin Strasser (FDP) einen "Geheimnisverrat" des Staatssekretärs. Strasser wandte sich im Verlauf der Sitzung später an den Zeugen Andreas Geisel mit der Frage, ob er als Dienstherr des LfV Strafanzeige gegen Lenz stellen wolle. Eher eine Aufforderung als eine Frage, die Geisel aber ablehnte.
Jedenfalls scheinen Wahrheit und Geheimnisverrat sehr nah beieinander zu liegen, für potentielle Whistleblower ein gefährliches Minenfeld.
Die Rolle der Politik
An "Vertuschung", "Verschweigen", "Verschwörung" im Fall Amri glaube er überhaupt nicht, erklärte Hans-Georg Engelke, Staatssekretär im Bundesinnenministerium, gegenüber dem Ausschuss. Nach all den Ungereimtheiten, die das Gremium herausgefunden hat, zwar ein ziemlich deplaziertes Glaubensbekenntnis, allerdings ein programmatischer Satz.
Wer als Konsequenz aus einem Terroranschlag schärfere Sicherheitsgesetze verabschieden und den Sicherheitsapparat aufrüsten möchte, muss Vertuschungen von Tathintergründen und Manipulationen von Ermittlungen bestreiten. Denn rechtsstaatswidrigen Behörden mehr Kompetenzen zu verleihen, verbietet sich.
Wir sind bei der Rolle der Politik. Politischer Dienstherr des Berliner Verfassungsschutzes ist Innensenator Andreas Geisel (SPD). Am 19. Dezember 2016 waren er und die neue rot-rot-grüne Regierung erst seit acht Tagen im Amt. Die Sicherheitsbehörden hätten keine konkreten Hinweise auf den Anschlag gehabt, erklärte er im Ausschuss-Zeugenstand, die Gefahr sei aber abstrakt vorhanden gewesen. Am Anschlagsabend sei es ihm dann darum gegangen, beruhigend zu wirken und Panik zu vermeiden.
Deshalb habe er es in öffentlichen Stellungnahmen lange offen gehalten, ob es sich um einen Verkehrsunfall oder einen Anschlag gehandelt habe. Weisungen, etwa aus dem Bundeskanzleramt oder vom Regierenden Bürgermeister, nicht von einem Anschlag zu sprechen, habe er nicht erhalten.
Dabei ist Geisel ein Kronzeuge für Polizeimanipulationen. Die Aufklärung des Anschlags begann ausgerechnet mit Aktenfälschungen in der Staatsschutzabteilung des LKA von Berlin. Erkenntnisse über Anis Amri wurden rückwirkend abgeschwächt. Inzwischen ziehen sich unerlaubte Praktiken durch nahezu sämtliche beteiligte Stellen und prägen den Anschlagskomplex.
Über die Ergebnisse aus der "Opalgrün"-Operation will der Berliner Innensenator von seinem LfV erst im Laufe des Jahres 2020 informiert worden sein. Deckungsgleich bewertete er die Informationen aus dem nördlichen Bundesland als nicht belastbar. Dass Schwerin die Berliner Kollegen nur unvollständig informiert hat, davon wusste er nichts.
Für eine strukturelle Zusammenarbeit zwischen Organisierter Kriminalität (OK) und gewaltbereiten Islamisten gäbe es keine Belege. Ebenfalls keine, ob es Mitwisser und Unterstützer der Tat gab.
Für wen verkaufte Amri die Drogen? Woher kamen sie? Stand hinter der Figur Amri irgendeine relevante Struktur? - fragte Ausschussmitglied Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen). Der Innensenator weiß es nicht. Sein Landeskriminalamt geht der Frage nicht nach. In Ermittlerkreisen interessiert sich niemand dafür. Daten, die bei der Durchsuchung der früheren radikalen Fussilet-Moschee im Januar 2017 gesichert wurden, sind bis heute nicht vollständig ausgewertet. Das Verbotsverfahren des Fussilet-Vereins wurde im Jahr 2016 vor allem auf Betreiben des Berliner Verfassungsschutzes verschleppt.
Ob der Senator den parlamentarischen Untersuchungsausschuss tatsächlich unterstützt, wird sich an den Aussagegenehmigungen zeigen, die die Berliner VS-Verantwortlichen für die anstehenden Befragungen erhalten.
Weitreichende sicherheitspolitische Maßnahmen
Seit dem Anschlag hat sich die Politik vor allem weitreichenden sicherheitspolitischen Maßnahmen gewidmet: Mehr Stellen für die Polizei, Ausbau des Staats- und des Verfassungsschutzes, Verschärfung des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG), wie das Polizeigesetz in Berlin heißt. Unter anderem sollen präventive Telefonüberwachungen eingeführt werden, die bisher nur bei realen Strafverfahren möglich waren. Das erweitere ASOG soll Anfang 2021 beschlossen werden.
Vorbereitet wird außerdem neues Veranstaltungssicherheitsgesetz, das Veranstalter verpflichtet, Sicherheitskonzepte vorzulegen. Das berlin-eigene Anti-Terror-Zentrum soll im Sommer 2021 bezogen werden können.
Alles in allem eine Politik der Verpolizeilichung der Gesellschaft. Dass der Hunger des Sicherheits- und Ordnungsstaates noch lange nicht gestillt ist, zeigte der Zeugenauftritt von Thomas de Maizière, der am 19. Dezember 2016 Bundesinnenminister war. Zur Aufklärung des Anschlags konnte auch er keinen Beitrag leisten. Sieht man von seinem Eingeständnis ab, an der Abschiebung des Mitbeschuldigten Ben Ammar persönlich beteiligt gewesen zu sein.
De Maizière erklärte, er habe keine überzeugende Antwort, wie ein "Flüchtling", der den Sicherheitsbehörden bekannt war, zu einer solchen Tat fähig war. Damit pflegte der CDU-Politiker gleich mehrere offizielle Narrative. Die vom alleinigen Täter Amri, wie die vom gefährlichen Flüchtling. Wenn der Ex-Innenminister dann bekundete, er trage die "volle Verantwortung" und stelle sich "vor die Sicherheitsbehörden", reklamierte er damit wiederum die Entscheidungshoheit für den Ausbau des Sicherheitsstaates.
De Maizière will ein bundesweit einheitliches Polizeigesetz sowie eine Stärkung der Bundespolizei und des BKA. Nach dem Anschlag bekam das BKA einen Personalzuwachs, wie es ihn in den Jahrzehnten davor "noch nie" gegeben habe. De Maizière plädiert dafür, dass das BKA so "agieren" kann wie der Generalbundesanwalt und selbstständig Ermittlungen an sich ziehen können soll.
Den geheimdienstlichen Möglichkeiten der Polizeibehörde, sprich: Einsatz von V-Personen, würden damit justizielle Möglichkeiten hinzugefügt. Damit würde ausgerechnet die Behörde, der im Fall Breitscheidplatz mehr als eine Manipulation nachgewiesen werden kann, zu einer übermächtigen Super-Behörde gemacht werden.
Letzte Chronistenpflicht: Zum Konflikt zwischen dem LKA von Nordrhein-Westfalen und dem BKA um den Informanten VP 01 befragt, verneinte De Maizière - "kurz und hart" - eine im Raum stehende Entscheidung getroffen zu haben, die VP 01 aus dem Spiel zu nehmen.