Anfang und Ende von "Dayton"
Vor zehn Jahre wurde der Friedensvertrag für Bosnien-Herzegowina unterschrieben. Heute will der Westen die Vereinbarung weghaben
Luftwaffenstützpunkt Dayton/Ohio, 21. November 1995: Der kroatische Präsident Franjo Tudjman, sein bosnisch-muslimischer Amtskollege Alija Izetbegovic sowie und der serbische Staatschef Slobodan Milosevic besiegeln durch ihre Paraphierung den Vertrag von Dayton und beenden damit den dreieinhalbjährigen Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina. Um 11.40 Uhr tritt auch US-Präsident William ("Bill") Clinton vor die Presse und verkündet den Durchbruch: "Nach beinahe vier Jahren, nach 50 000 Toten, nach zwei Millionen Flüchtlingen und nach Grausamkeiten, die die Weltöffentlichkeit mit Abscheu erfüllten, haben die Menschen in Bosnien nun endlich die Chance, die Schrecken des Krieges zu überwinden und in der Hoffnung auf Frieden zu leben."
Bemerkenswert an dieser Ansprache ist immerhin, dass Clinton die Zahl der Bürgerkriegsopfer relativ korrekt angegeben hat – seither ist sie, unter tatkräftiger Mithilfe verschiedener Bundesregierungen und humanitärer Spesenritter, vervielfacht worden. Die meisten Medien dürften auch zum Dayton-Jubiläum wieder von 250 000 bosnischen Toten sprechen.
Gerechtfertigt war auch, dass der balkanische Friede auf dem Rose Garden des Weißen Hauses annonciert wurde: Ohne die Vereinigten Staaten hätte es den Vertrag nicht gegeben. Das allerdings sollte nicht als Kompliment missverstanden werden: Hätten die USA im März 1992 nicht die Sezessionserklärung von Bosnien-Herzegowina anerkannt und, zusammen mit Deutschland, ihre Partner nicht zur Unterstützung dieses Schrittes genötigt, hätte der Bürgerkrieg vermutlich verhindert werden können. Denn die Abtrennung der Republik von Jugoslawien erfolgte – entgegen bindender Regelungen in der bosnischen Verfassung - nur mit Zustimmung zweier Volksgruppen, nämlich der Kroaten und Muslime, und gegen den ausdrücklichen Willen der dritten, der Serben.
In der Folge versuchten alle drei, möglichst viel Territorium an sich zu reißen, wobei ab dem Frühjahr 1993 die vorher verbündeten Kroaten und Muslime auch noch übereinander herfielen. Sobald es aussichtsreiche Vorschläge gab, das Gemetzel durch Kompromisslösungen zu überwinden, etwa das Lissabonner Abkommen (1992) oder den sogenannten Vance-Owen-Plan (1993), forderte die USA die Muslime zum Weiterkämpfen auf – auf sie hatte die Clinton-Administration nämlich gesetzt, da die Kroaten als zu deutschfreundlich und die Serben als zu antiwestlich galten.
Als 1994 das Kampfgeschehen abebbte und in einen Stellungskrieg bei deutlich fallender Opferzahl überging, goss Washington wieder Öl ins Feuer: Im Frühjahr 1995 begann das Pentagon – unter Bruch des UN-Waffenembargos – mit klandestinen Waffenlieferungen in großem Stil an die Muslime in Ostbosnien (Das schmutzige Spiel der Geheimdienste). Im Frühsommer 1995 wurden parallel die an Westbosnien angrenzenden serbischen Siedlungsgebiete in Westslawonien und der Krajina durch groß angelegte Offensiven der kroatischen Armee aufgerollt, die von US-Generälen befehligt wurde. Als die Serben dann blindwütig gegen die UN-Schutzzonen in Srebenica und Zepa zurückschlugen, hatte die NATO die Legitimation für ein eigenes Eingreifen: Im September 1995 flogen Kampfflugzeuge des westlichen Militärpaktes zwei Wochen lang massive Angriffe auf die Stellungen der bosnischen Serben, mehrere hundert Menschen kamen zu Tode. Der erste Kriegseinsatz der NATO seit ihrer Gründung, übrigens unter Beteiligung deutscher Tornados, fand also nicht erst 1999, sondern schon vier Jahre zuvor statt.
Unterstützt durch die NATO-Luftangriffe drangen die moslemischen und kroatischen Truppen im Spätsommer 1995 auch am Boden vor und nahmen den Serben ein knappes Drittel des bis dahin gehaltenen Territoriums wieder ab. Jetzt teilte der Frontverlauf Bosnien-Herzegowina etwa im Verhältnis 50:50 – das war die militärische Voraussetzung für das Gelingen der Dayton-Konferenz.
Milosevic gibt nach
Nach Richard Holbrooke, Clintons Verhandlungsführer, siegte in Dayton die "Holzhammermethode":
Alle Beteiligten werden so lange eingesperrt, bis sie zu einer Einigung kommen.
Richard Holbrooke
Die Klausur dauerte schließlich 21 Tage und stand mehrfach vor dem Scheitern. Die Delegation der bosnischen Muslime unter Präsident Alija Izetbegovic wurde dabei von einem Mann beraten, auf den die internationale Öffentlichkeit erst in den Folgejahren aufmerksam geworden ist: Richard Perle, Einpeitscher der Neokonservativen an allen Fronten von Kabul bis Bagdad und Teheran ("Dank sei Gott für den Tod der UN"). Er kämpfte erbittert gegen Zugeständnisse an die Serben, und wären die von ihrem eigenen Präsidenten Radovan Karadzic vertreten worden, wäre die Veranstaltung wohl geplatzt. Nur weil auf US-Druck deren Team vom jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic geführt wurde, kam es zum Erfolg: Er war mit der Übergabe der gesamten Stadt Sarajevo einverstanden, was dann zum Exodus von 150.000 der vorher 165.000 serbischen Bewohner der Metropole führte. Diese Offerte war für Holbrooke "die erstaunlichste und überraschendste der gesamten Konferenz."
Milosevic rechtfertigte sein Einlenken mit der im Dayton-Vertrag gleichfalls festgelegten Aufteilung des Staates in zwei sogenannte Entitäten: neben der muslimisch-kroatischen Föderation auf 51 Prozent des Territoriums wurde die serbische Republik (Republika Srpska) geschaffen, der 49 Prozent zugestanden wurden. Damit hätten die Serben ihre Selbständigkeit zu einem guten Teil gewahrt, freute sich der Belgrader Strippenzieher. Tatsächlich hatten die Entitäten mehr Befugnisse als etwa deutsche Bundesländer, etwa das Recht auf eigene Polizeikräfte und eine eigene Armee. Doch der Westen hatte dieses Zugeständnis nur widerwillig gemacht, weil ein gänzliches Scheitern von Dayton und ein Wiederaufflackern des Bürgerkrieges eventuell die damals noch starke jugoslawische Armee auf den Plan gerufen hätte. Seit dem Sturz von Milosevic im Oktober 2000 aber wird gezielt an der Liquidierung der Dayton-Struktur gearbeitet.
Bosnien und das Kosovo
Paradoxerweise wird also auf den diesjährigen Jubelfeiern gleichzeitig das Sterbeglöckchen für das Daytoner Vertragswerk geläutet werden. Die NATO-Mächte wollen vor allem die darin garantierte Autonomie der serbischen Entität – das wichtigste Zugeständnis, das Milosevic 1995 erhalten hat - beenden und eine zentralistische Republik aus der Taufe heben.
So will man verhindern, dass die Serben in Bosnien das selbe Recht in Anspruch nehmen, das der Westen derzeit den Albanern des Kosovo in Aussicht stellt: Mittels eines Referendums aus dem ungeliebten Staatsverband auszutreten und eine eigene Republik zu gründen. Selbstbestimmung lässt die NATO nämlich nur zu, wenn es ins Konzept passt – das ist die wichtigste Lehre der letzten zehn Jahre auf dem Balkan.