Angriffsziel Syrien?
Syrien droht, auf einen erneuten Angriff "mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zurück zu schlagen
Nach dem israelischen Luftangriff auf ein angebliches palästinensisches Ausbildungslager, nur 15 Kilometer von Damaskus entfernt, zeigte sich die syrische Regierung eher gelassen und beschwichtigend. Der Angriff wurde als ein Akt der Provokation gesehen. Das "Ausbildungslager“ war bereits vor über 6 Jahren geschlossen worden und diente danach als Rastplatz für Touristen. Ein Fakt, der dem ansonsten so gut informierten israelischen Geheimdienst nicht entgangen sein dürfte. "Scharon will Syrien und die ganze Region in einen Krieg treiben“, sagte deshalb der syrische Präsident Bashar Assad. Am Mittwoch hatte sich das US-Repräsentantenhaus für Sanktionen gegen Syrien ausgeprochen. Gestern hat schließlich der syrische Generalstabschef Hassan Turkmani zur Wachsamkeit gegenüber einem erneuten Angriff aufgerufen.Assad beschuldigte Israel auf dem Gipfel der Islamischen Konferenz, den "Krieg gegen den Islam“ auszuweiten. Syrien ließe sich von der militärischen Machts Israels nicht beeindrucken. Gleichwohl setzte Syrien im UN-Sicherheitsrat nicht auf Konfrontation, sondern stimmte wie alle anderen Staaten gleichfalls für die von der US-Regierung eingebrachte UN-Resolution.
Zunächst ging Syrien allerdings bedächtig vor. Erst eine Woche nach dem Luftangriff reagierte das syrische Außenministerium. Auf einer Pressekonferenz in Damaskus sagte Bushra Kanafani, die Sprecherin des Ministeriums, "Syrien wird ihr legitimes Recht wahrnehmen und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln antworten, falls sich die Aggression wiederholen sollte.“
Normalerweise sollte man meinen, kein Land des Nahen Ostens könnte ein Interesse an einem Krieg haben, der völlig unkalkulierbare katastrophale Folgen für die gesamte Region hätte. Doch bei Premierminister Ariel Scharon weiß man nie. Bekanntermaßen hat er ein "Faible“ für kriegerische Auseinadersetzungen und gilt dabei als "unnachgiebig“. Schon 1982 leitete er als Verteidigungsminister die großangelegte Invasion des Libanon und gilt als Verantwortlicher für die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern von Beirut. Nun ließ Scharon nach über 30 Jahren, zuletzt 1973 im arabisch-israelischen Krieg, erneut Syrien angreifen und das mit offizieller Billigung durch die US-Regierung. Viele arabische Beobachter glauben nun, dass ein zweiter Angriff jederzeit bevorstehen könnte.
Die Frage ist dann, wie wird und vor allen Dingen wie kann Syrien zurückschlagen und was bedeutet eine "Antwort mit allen zu Verfügung stehenden Mitteln“, ohne einen vollständigen Krieg zu provozieren.
Die syrische Armee ist zahlenmäßig zwar groß, aber mit veraltetem sowjetischen Gerät ausgerüstet. In den 80er Jahren versuchte Syrien eigene Raketen zu entwickeln, wahlweise mit konventionellen, chemischen wie auch biologischen Sprengköpfen zu bestücken. Man dachte, ein abschreckendes Gegengewicht zur militärischen Überlegenheit Israels zu schaffen. Zustande kam eine erweiterte Version der Scud C–Rakete. Diese Scud D hat eine Reichweite von 700 Kilometern, aber eine geringere Treffsicherheit und einen kleineren Sprengkopf wie die Vorgängerversionen Scud B und Scud C, die in großer Zahl in den syrischen Waffenarsenalen lagern. Aber diese "Long-Range-Missiles“ sind Waffen, die normalerweise nur im äußersten Notfall eingesetzt werden, da die Folgen verheerend sein können. Als Mittel zum "ausgleichenden“ Gegenschlag sind sie daher ungeeignet. Ein Einsatz würde sofort Krieg auslösen. Stattdessen könnte Syrien für einen Testabschuss einer ihrer neuen Scud D votieren. Eine publicityträchtige Taktik, wie sie in der Vergangenheit bereits mehrfach von Ländern wie Nordkorea, Pakistan oder Indien benutzt wurde, um den Nachbarn eine Warnung zu übermitteln.
Eine andere Option wäre die Stationierung von Luftabwehrraketen im Bekaa-Tal, die eine ernsthafte Bedrohung für die häufigen Patrouillenflüge der israelischen Luftwaffe über dem Libanon bedeuteten. Die syrischen SAMs sind zwar ebenfalls etwas veraltet, aber sie sorgten beim letzten israelischen Angriff wenigstens dafür, dass die Kampfflugzeuge es nicht wagten, in syrischen Luftraum einzudringen. Die Raketen, die das ehemalige palästinensische Lager zerstörten, wurden aus dem libanesischen Luftraum abgefeuert.
"Eine durchaus realistische Option“, meint Timur Goksel, ehemaliger Berater der UN Friedenstruppe im Südlibanon. "Die Israelis würden es nicht wagen, diese SAM-Batterien im Bekaa-Tal anzugreifen. Dann wäre es nämlich nur mehr ein kleiner Schritt zum Krieg.“ Eine etwas unsichere Prognose, bedenkt man die Rigorosität der Politik der israelischen Regierung in den letzten beiden Jahren.
Grünes Licht für Hisbollah
Eine andere Variante wäre das, was Syrien schon öfter machte, wenn es ihren Unmut über israelische Politik zeigen wollte. Man gibt "grünes Licht“ für Operationen an der israelisch-libanesischen Grenze. Im April 2002 gab es dort 10 Tage andauernde Kämpfe, nachdem Israel erneut die West Bank besetzte.
"Grünes Licht“ heißt logistische Zusammenarbeit mit der Hisbollah, die ihrerseits bereits angekündigt hat, im Falle eines erneuten israelischen Angriffs militärisch zurückzuschlagen. In den letzten Tagen hat die "Partei Gottes“, die sich selbst als "Widerstandsbewegung gegen Israel“ bezeichnet, ihre Stellungen verstärkt und Elitetruppen aus dem Bekaa-Tal an die israelische Grenze verschoben. Im Jahr 2000 hat die Hisbollah das israelische Militär aus dem Südlibanon vertrieben und ist bis heute letztendlich die größere Bedrohung für Israel. Sie ist ein Feind, den man nicht habhaft werden kann, ohne eine Hauptstadt, die man bombardieren könnte.
Die Hisbollah verfügt über eine sehr gut ausgerüstete Truppe, deren schätzungsweise 60.000 Mann zum größten Teil als Elitesoldaten ausgebildet sind und für die es einer Schande gleichkommt, von einer Mission lebend nach Hause zurückzukommen. Sie benützen modernste Kommunikationsmittel und ihr Geheimdienst hat Informanten, selbst in der israelischen Armee und kennt so meist alle gegnerische Truppenbewegungen. Über die Bewaffnung weiß man nur so viel, dass sie ausgezeichnet ist und dem Stand der iranischen Armee entspricht. Über "Umwege“ sollen angeblich auch Waffen aus dem Arsenal Saddam Husseins bei der Hisbollah gelandet sein, wie ein Ex-Soldat aus der "Imam Ali Brigade“ versichert, der natürlich unerkannt bleiben will. Syrien soll ebenfalls ein Empfänger solcher Waffenlieferungen aus dem Irak sein, was natürlich Wasser auf den Mühlen der US-Regierung im Kampf gegen den "terroristischen Staat“ Syrien bedeutet. Die Waffenlieferungen sollen vor der Invasion der USA den Irak verlassen haben.
"Die Auseinadersetzung an der Grenze aufzuheizen“, meint aber Timus Goksel, der ehemalige UN-Berater, sei zu riskant und die Hisbollah nicht kontrollierbar. "Wenn es um nationale Interessen geht, dann möchte Syrien sie nicht in den Händen anderer wissen.“
Das letzte und vierte denkbare Szenario wäre die Organisation von Widerstandsaktionen auf den Golan-Höhen, wo es seit 1974 relativ ruhig ist. Nur im May 2001 explodierte eine Bombe in einem Cafe, das regelmäßig von Israelis besucht wurde. Man vermutet die Hisbollah dahinter, als eine Antwort auf den israelischen Beschuss einer Radarstation der syrischen Armee im Bekaa-Tal, einen Monat zuvor.