"Angst vor Armen lässt Mauern wachsen"

Seite 2: Die Ungleichheit in der Globalisierung drückt sich auch in der unterschiedlichen Freizügigkeit aus

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Aber wie ist das alles denn mit der Globalisierung zu vereinbaren? Gibt es selektive, eine fragmentarische Globalisierung?

Dietrich Thränhardt: Ja, sicherlich. Das sieht man schon an den Visa-Regimen, die ja quasi die bürokratische Vorstufe dieser Sicherheitssysteme sind. Als Bewohner eines reichen Landes sind wir an weltweite Bewegungsfreiheit gewöhnt. Vielleicht mit der Ausnahme von Nordkorea dürfen wir überall hinfliegen, während die Menschen aus den ärmeren Ländern doch sehr eingeschränkt werden. Die bestehende Ungleichheit in der Globalisierung drückt sich damit auch in der unterschiedlichen Freizügigkeit aus. Der Auf- und Ausbau von Grenzsystemen ist ein Ausdruck dieser Situation. Übrigens nicht nur an den Außengrenzen, sondern auch innerhalb von Staaten in Form von "gated communities", die noch einmal gesicherte Inseln in der Mauernwelt bieten, sozusagen wie eine mittelalterliche Burg, die einen äußeren Ring hatte, einen inneren Ring und dann noch mal einen Bergfried, auf den man sich zurückziehen konnte.

Grenzzaun um Melilla. Bild: Ongayo/CC-BY-SA-3.0

Mauern bieten also auf der einen Seite ein Refugium, können auf der anderen Seite aber auch eine tödliche Gefahr sein. Das sehen wir vor allem an der EU-Außengrenze. Innerhalb des abgeschirmten Bereiches wird dieses Problem zugleich ausgegrenzt. In Deutschland sprechen wir bis heute über 138 Tote an der innerdeutschen Grenze, die gut 2.000 Menschen, die alleine 2011 an den EU-Außengrenzen gestorben sind, kommt dem gegenüber jedoch relativ wenig Beachtung zu. Ist das nicht Ausdruck einer enormen moralischen Dissonanz?

Dietrich Thränhardt: Über diese Toten wird ja schon diskutiert, wenn sie sichtbar werden. Die Katastrophe von Lampedusa war in dieser Hinsicht auf jeden Fall ein Einschnitt, der eine Debatte ausgelöst hat. Sonst sind diese Toten im Mittelmeer aber sozusagen unsichtbar. Der Unterschied zwischen den beiden Fällen ist aber auch, dass das DDR-Regime eine totale Kontrolle über seine Handlungen hatte, während die Situation im Mittelmeer recht diffus ist und die Europäische Union keine hinreichende Kontrolle hat. Selbst die Organisation FRONTEX ist relativ klein und hat ein diffuses Gefüge, so dass die Handlungsfähigkeit recht beschränkt ist. Das ist bei der US-mexikanischen Grenze anders, weil der US-Staat ein zentraler Akteur in diesem Geschehen ist.

Grenzzaun in Arizona. Bild: GBP.gov

Geht es, wenn wir über die Motive sprechen, denn nur um den Sicherheitsaspekt, oder spielt nicht die Abwehr von Migrationsströmen eine immer zentralere Rolle?

Dietrich Thränhardt: Bei der US-mexikanischen Grenze war die Abwehr von Immigranten ohne Zweifel das primäre Motiv, Sicherheitsmotive waren zunächst sekundär. Bei der israelischen Mauer ist das umgekehrt. Bei den EU-Außengrenzen gibt es relativ wenige Mauern. Die bestehen nur in den beiden kleinen Enklaven Ceuta und Melilla von Spanien in Marokko, wo ein System entstanden ist, das man in der technischen Ausführung durchaus mit dem DDR-Grenzsystem vergleichen kann. Nur dass man eben nicht nach innen, sondern nach außen abschirmt. Da geht es zunächst um Migration, die aber von den EU-Mitgliedsstaaten immer weniger kontrolliert werden kann. Es gibt zwar Diskussionen, wie man diesen Zustrom aus Afrika alternativ bewältigen könnte. Ob man die regulären Einwanderungsmöglichkeiten ausbauen kann, um das abzufedern. Aber es gibt im Grunde bislang kein Konzept, das den Mauerbau ersetzen könnte.

Nun geht all dies auch mit einem politischen Diskurs einher. Der US-Politologe Samuel Huntington warnt angesichts des Immigrationsdrucks vor einer Überfremdung der USA und einem Kulturverlust. Diese Position steht in krassem Widerspruch zur These der Transnationalisierung, die der kubanische Anthropologe Fernando Ortíz vom südlichen Blickwinkel aus in den 1940er Jahren als positive Perspektive aufgestellt hat. Sorgen die neuen Mauern also auch wieder für eine Entfremdung der Menschen in der globalisierten Welt?

Dietrich Thränhardt: Das ist zweifellos der Fall, wenn man sich die reale Situation in diesen Grenzgebieten ansieht. Zwischen den USA und Mexiko ist der menschliche Kontakt total gestört. Die dortigen Gesellschaften waren früher transnational und das ist heute sicher nicht mehr so, weil man die Bewegungsfreiheit eingeschränkt hat. Und das ist ja die Ironie: Einerseits werden die Gesellschaften globalisiert und der Verkehr nimmt zu, andererseits aber macht man an den Grenzen diese Schnitte, die das Zusammenleben erschweren oder sogar unmöglich machen.

Insgesamt ist die Diskussion aber sehr konfus. Die These Huntingtons über einen Kulturkonflikt hat sich nicht halten lassen. Gleichzeitig haben wir aber seit den Terroranschlägen vom 11. September und dem Krieg von George W. Bush in Irak eine sehr starke Zuspitzung auf einen intensiv empfundenen Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen. Das ist, so allgemein ausgedrückt, natürlich unsinnig, aber weil dieser Konflikt sehr stark thematisiert wird, ist er sehr stark in den Herzen und in den Köpfen der Menschen verankert. Deswegen stoßen Abgrenzungsmaßnahmen in diesem Bereich rasch auf Widerhall. Andererseits wird dieses Schema bei anderen Konflikten durchbrochen. So gibt es in Westen eine große Sympathie mit dem ursprünglichen Aufstand in Syrien.

Die Mauern in den Köpfen und die Mauern auf der Erde sind also durchlässig?

Dietrich Thränhardt: Wir sehen nicht nur beim Hadrianswall, den Sie vorhin zitiert haben, und anderen alten Maueranlagen, dass sie nicht sehr wirksam gewesen sind. Auch die neuen Maueranlagen sind in ihrer Wirksamkeit nur sehr begrenzt, weil es immer wieder auch neue Entwicklungen gibt, die ihnen entgegenwirken.

Welche Alternative bleibt also?

Dietrich Thränhardt: Natürlich kann man nicht auf einen Schlag alle Grenzen öffnen, aber realistische Öffnungskonzepte müssen diskutiert werden. So besteht die Möglichkeit, dass wir die Visa-Beschränkungen gegenüber Ländern wie Russland und der Türkei, also stabilen Nachbarstaaten der EU, abschaffen und damit legale Bewegungsmöglichkeiten eröffnen. So könnten die restlichen Grenzen effektiver gesichert werden. Ein großes Potential sehe ich in der verstärkten globalen Freizügigkeit. Wir haben heute schon sehr viel mehr freien Verkehr, als wir uns das vor 30 oder 40 Jahren hätten vorstellen können. Von daher sehe ich die Lage nicht total negativ. Eine gezielte Öffnungspolitik kann sehr viel dazu beitragen, um menschliches Elend zu verhindern und unsere Gesellschaften offener zu machen.