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Annexion in dieser Woche: Warum der Westen gerade jetzt besonnen bleiben sollte

Was diese junge Frau wohl gewählt hat? Bild: Ria Nowosti

Themen des Tages: Moskau zieht Zeitplan in der Ost-Ukraine durch – Anschluss am Freitag. Fassungslosigkeit im Westen treibt seltsame Blüten. Und warum Europa der Gaskrise nicht entkommt.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Russische Medien hatten den Termin schon bekanntgegeben: Kurz vor dem Wochenende will Putin sein Reich zulasten der Ukraine vergrößern.

2. Warum auch undemokratische und völkerrechtswidrige Referenden am Ende Referenden sind, die ohne Bestimmungswörter auskommen dürfen.

3. Und wie Europa kurz vor dem Winter – und auch ohne explodierende Pipelines – mit Gasknappheit zu kämpfen hat.

Doch der Reihe nach.

Kreml will Gebiete im Osten der Ukraine am Freitag zu eigenem Staatsgebiet erklären

Die russische Regierung hat sich von allen Drohungen und Warnungen vor Konsequenzen nicht beeindrucken lassen: Am Freitag will Präsident Wladimir Putin die Verträge zum Beitritt vier ukrainischer Gebiete zu Russland unterzeichnen.

Er folgt damit dem von vornherein entworfenen Fahrplan Moskaus, nach dem auf die international nicht anerkannten Referenden in den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk sowie den Regionen Cherson und Saporischschja einem Antrag auf Beitritt zu Russland stattgegeben werden wird.

Kremlsprecher Dmitri Peskow bestätigte heute den Termin, den russische Medien schon der Anfang der Woche prognostiziert hatten:

Morgen wird es im Großen Kremlpalast, im Georgssaal, um 15:00 Uhr eine Zeremonie zur Unterzeichnung von Abkommen über den Beitritt neuer Gebiete zur Russischen Föderation geben. Bei dieser Veranstaltung wird es eine umfassende Rede von Präsident Putin geben.

Dmitri Peskow

Die Rede Putins finde unabhängig von einem Termin vor der Föderationsversammlung statt, den beiden Kammern des russischen Parlaments, so Peskow weiter.

Vor allem westliche Staaten hatten die Abstimmungen im besetzten Gebiet harsch kritisiert. Da die Referenden nicht als frei und fair bezeichnet werden können, handelt es sich bei dem angekündigten Anschluss der Gebiete völkerrechtlich um eine Annexion – so übrigens wie die des Nato-Staates Türkei aif Zypern 1974.

Die Organisatoren der Abstimmungen behaupten, dass in der "Volksrepublik Donezk" 99,23 Prozent der Teilnehmenden für einen Anschluss an Russland gestimmt haben; in der "Volksrepublik Luhansk" seien es 98,42 Prozent gewesen; im Gebiet von Cherson 87,05 Prozent, im Gebiet von Zaporozhye 93,11 Prozent.

US-Präsident Joe Biden hatte Ende vergangene Woche angekündigt, dass die USA "ukrainisches Territorium niemals als etwas anderes als einen Teil der Ukraine anerkennen" würden:

Russlands Referenden sind eine Farce - ein Vorwand, um zu versuchen, Teile der Ukraine unter eklatanter Verletzung des Völkerrechts, einschließlich der Charta der Vereinten Nationen, gewaltsam zu annektieren. Wir werden mit unseren Verbündeten und Partnern zusammenarbeiten, um Russland zusätzliche schnelle und schwere wirtschaftliche Kosten aufzuerlegen.

US-Präsident Joe Biden

Artikel zum Thema:

Anatol Lieven: Tick-Tack: Mit Putins Eskalation beginnt der Countdown der Diplomatie-Uhr [1]
Harald Neuber: Kremlsprecher Peskow: Lage in "Volkrepubliken" wird sich "radikal ändern" [2]
Roland Bathon: Wie die russische "Spezialoperation" offiziell zum Krieg wird [3]

Politik, Medien und Ukraine-Krise: Alle mal beruhigen, bitte!

Das Polittheater, das Moskau im Osten der Ukraine veranstaltet, und die Rücksichtslosigkeit des Kremls lassen im Westen die Emotionen hochkochen: bei Politikern und Journalisten.

Während in diesem Konflikt auf politische Ebene immer neue Sanktionen erlassen und Drohungen ausgestoßen werden, einschließlich des Einsatzes nuklearer Waffen – Stichwort: "all options are on the table" –, droht auch die Presse in den Strudel politischer Befindlichkeiten gezogen zu werden. Kaum eine Redaktion kommt mit Blick auf das Geschehen im Osten der Ukraine noch ohne das Kompositum "Scheinreferenden" aus.

Dahinter steht eine ungute Politisierung der Presse und der Mediensprache. Natürlich haben in den vier ukrainischen Gebieten Referenden stattgefunden. Was soll es sonst gewesen sein? Teepartys mit Samowar und mit "The very best of Putin-Reden (Vol. 34)"?

Es ist nicht Aufgabe der Presse, das Geschehen schon in den Headlines zu framen, sondern die Hintergründe sachlich zu erklären. Stattdessen werden Bestimmungswörter ("Schein") vorangestellt und die Texte sind derart anführungszeichenschwanger wie ein Bild-Bericht aus den Achtzigerjahren über die DDR –oder eben die "DDR".

Blöd für diejenigen, die eigenverschuldet den Unmut auf sich ziehen. So wie ein Journalist und ein Energiemanager aus Deutschland, die sich in der aktuellen Situation allen Ernstes von Russland haben einladen lassen, um die Referenden im Osten der Ukraine als Wahlbeobachter zu begleiten.

Da steckt schon reichlich Naivität dahinter, zumal mindestens einer der Männer sich bei einer

um von einem gut organisierten und transparenten Referendum zu sprechen.

Man hätte die Sache aber auch tiefer hängen können. Denn richtige PR haben die beiden Naivlinge erst durch den medial-moralischen Aufschrei in Deutschland bekommen. Deren Beschwichtigungen, es habe sich um private Reisen gehandelt, machten die Sache nur noch schlimmer.

Abmahnung, Abzug vom Russland-Geschäft, freiwillige Arbeit mit Ukraine-Flüchtlingen, das Abschreiben von "The very best of Putin-Reden, Vol 34" – wie auch immer: Die Freistellung und Kündigung der beiden Ost-Ukraine- bzw. West-Russland-Fans aber ist Zeichen einer Hysterie, die Medien und Politiker erfasst hat und die noch manche Opfer fordern wird.

Es täte – bei aller Klarheit in der Sache – allen Seiten gut, einen Gang herunterzuschalten.

Artikel zum Thema:

Redaktion Telepolis: Deutsche Teilnehmer: Kündigungen nach russisch organisierter Beobachtung in der Ost-Ukraine [4]
Harald Neuber: Putin eskaliert: Wie wir jetzt reagieren müssten [5]
Redaktin Telepolis: Im Wortlaut: So begründet Scholz die Sanktionen – und Putin die Teilmobilmachung [6]

Wenn es einem bei "Energiesouveränität und -freiheit" kalt den Rücken herunterläuft

Die Ära der russischen Vorherrschaft beim Thema Gas gehe zu Ende, zitiert Telepolis-Autor Bernd Müller den polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki. Es sei eine Ära gewesen, "die von Erpressung, Drohung und Zwang geprägt war". Es beginne nun eine neue Ära der Energiesouveränität und -freiheit [7].

Bei aller Zuversicht des obersten regierenden Polen: Vielen Europäern läuft es angesichts der aktuellen Energieversorgungslage eher kalt den Rücken runter. Bei den Deutschen war zudem der jüngste Temperaturabfall ein Grund. Der Gasverbrauch hierzulande liegt nach Angaben der Bundesnetzagentur jedenfalls über dem der Vorjahre [8]. Olaf Scholz muss wohl noch mal zu den Saudi-Diktatoren, um für mehr Freiheit vom russischen Autokraten nachzuverhandeln.

Ist Joseph Biden reif für den Ruhestand (weit weg vom Atomknopf)

Das US-Selbstverständnis als führende Weltmacht gilt jetzt auch epidemiologisch. In der vergangenen Woche, so Telepolis-Redakteur David Goeßmann erklärte US-Präsident Joe Biden jedenfalls, dass "die Pandemie vorbei ist". Wir hoffen, der oder das Corona-Virus und alle seine Varianten haben Biden zugehört [9].

Aber der sollte sich manchmal selber nicht zuhören. Dass er gerade die verstorbene US-Abgeordnete Jackie Walorski im Publikum suchte [10], nachdem er den Angehörigen selbst kondoliert hatte, schockierte wohl nicht nur die Anwesenden und die Familie.

Auch über diesen Kreis heraus stellt man sich zunehmend die Frage, ob der älteste und einer der unbeliebtesten Präsidenten der USA noch für sein Amt geeignet ist. Und das hat nichts mit seinem Sprachfehler zu tun, der er mal gehabt haben soll.

Den Atomkoffer sollte der Secret Service übernehmen. Nicht, dass Biden ihn mit der Steuerung seiner Garagentür verwechselt.

Militärische Stagnation in der Ost-Ukraine

An der Front im Donbass gab es in den letzten Tagen wenig Bewegung, berichtet Telepolis-Autor Roland Bathon [11]. Den ukrainischen Streitkräften sei es zwar gelungen, ihre Brückenköpfe östlich der Flüsse Oskol und Sewersky Donez zu befestigen.

"Nach britischen Geheimdienstinformationen stoßen sie von dort aus in zwei Richtungen vor. In weiteren Meldungen wurde zuletzt von einzelnen Eroberungen der Ukrainer berichtet", so Bathon. Größere Erfolge habe es jedoch wohl nicht gegeben, da sie sonst umgehend von der ukrainischen Führung verkündet worden wären.

Dabei läuft der Ukraine die Zeit weg: Der in Osteuropa in der Regel strengere Winter naht und die russischen Streitkräfte werden durch zehntausende Rekruten verstärkt


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https://www.heise.de/-7279877

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Tick-Tack-Mit-Putins-Eskalation-beginnt-der-Countdown-der-Diplomatie-Uhr-7277162.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Kremlsprecher-Peskow-Lage-in-Volkrepubliken-wird-sich-radikal-aendern-7277309.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Wie-die-russische-Spezialoperation-offiziell-zum-Krieg-wird-7271523.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Deutsche-Teilnehmer-Kuendigungen-nach-russisch-organisierter-Beobachtung-in-der-Ost-Ukraine-7279106.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Putin-eskaliert-Wie-wir-jetzt-reagieren-muessten-7272107.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Im-Wortlaut-So-begruendet-Scholz-die-Sanktionen-und-Putin-die-Teilmobilmachung-7271451.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Baltic-Pipe-Warum-Polen-trotz-neuer-Gasleitung-kaum-ueber-den-Winter-kommt-7278801.html
[8] https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/20220929_Verbrauchsdaten.html?nn=265778
[9] https://www.heise.de/tp/features/Der-Wunsch-nach-dem-Ende-der-Pandemie-7278847.html
[10] https://www.youtube.com/watch?v=oGW76zRKZM0
[11] https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Krieg-So-chaotisch-laeuft-die-Teilmobilmachung-in-Russland-7278933.html