Der Wunsch nach dem Ende der Pandemie
- Der Wunsch nach dem Ende der Pandemie
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US-Präsident Biden hat das Ende der Pandemie ausgerufen. Angesichts von explodierenden Preisen, Ukraine-Krieg und fossiler Energiekrise wollen viele von Covid-19 nichts mehr hören – verständlicherweise. Wo stehen wir aber wirklich?
Letzte Woche erklärte US-Präsident Joe Biden, dass "die Pandemie vorbei ist". In Deutschland ist man diesbezüglich verhaltener. Doch auch hierzulande werden die Stimmen lauter, die Normalität gegenüber dem Virus einfordern. So sagte der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag Tino Sorge gegenüber dem Spiegel:
Es wird Zeit, den Tunnel der Angst zu verlassen. Immer mehr Staaten kehren zurück zur Normalität. Bei aller nötigen Vorsicht: Der Ausnahmezustand darf nicht zum Dauerzustand werden. Auch unsere Bundesregierung wird den Menschen erklären müssen, wie lange wir uns noch im Pandemiemodus bewegen werden.
Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sieht Deutschland im "Übergang von der Pandemie zu Endemie". Weitere Schutzmaßnahmen seien nicht mehr notwendig.
Die "Pandemie-ist-vorbei"-Aussage vom US-Präsidenten ist politisch durchaus nachvollziehbar. Im November stehen die wichtigen Kongresswahlen in den USA an. Da ist die Versuchung groß, eine optimistische Botschaft aussenden zu wollen. Denn die Bevölkerung ist nach 2,5 Jahren Corona müde. So stellt der US-Epidemiologe Michael Osterholm gegenüber dem Online-Gesundheitsmagazin Stat fest, dass die Menschen "fertig mit der Pandemie" seien. "Sie wollen das hinter sich lassen."
Doch die Zahlen sprechen leider eine andere Sprache. COVID-19 hat in den Vereinigten Staaten im vergangenen Monat 13.000 Menschen getötet, während 2,2 Millionen neue Infektionen gemeldet wurden. In Deutschland ist die Inzidenz weiter auf einem hohen Niveau, allerdings hat die Zahl der Intensivpatienten abgenommen und ist nur noch halb so hoch wie zur selben Zeit im Vorjahr. Doch es werden weiter etwa 100 Todesfälle täglich gemeldet. In Deutschland starben in diesem Jahr bereits doppelt so viele Menschen an Covid-19 als im gesamten Jahr 2021.
In den ersten acht Monaten des Jahres 2022 verstarben weltweit mehr als eine Million Menschen an der Viruserkrankung, und die Zahl der direkt und indirekt durch die seit Ende 2019 andauernde Gesundheitskrise verursachten Todesfälle überstieg schon Anfang des Jahres die Zahl von 15 Millionen.
Eine Reihe von US-Medizinern und Gesundheitsexperten hat daher der Biden-Ansicht widersprochen, dass die Pandemie beendet sei. Vor allem Ärzte, die an der Basis täglich mit Corona-Infektionen zu tun haben, üben Kritik. "Ich bin zusammengezuckt, als der Präsident das gesagt hat", erklärt David Pate, ein Mediziner in Boise im Bundesstaat Idaho, der lange Direktor an der dortigen St. Luke-Klinik war. "Es ist nicht vorbei!"
Auch für Steven Thrasher, Autor von "The Viral Underclass: The Human Toll When Inequality and Disease Collide", steht fest: "Ich denke, es ist sehr verfrüht zu sagen, dass das Ende dieser Pandemie in Sicht ist". Und Yale-Epidemiologe Gregg Gonsalves twitterte:
Tut mir leid, Leute. Mr. Biden liegt völlig falsch. 500 Menschen sterben pro Tag. Die zweithäufigste Todesursache in den USA. Wir sind Spitzenreiter bei der Sterblichkeit unter den G7. Lebenserwartung sinkt. Er glaubt, das sei gute Politik. Das mag sein, aber es setzt voraus, dass er das Leiden von Millionen Amerikanern akzeptiert.
Die Medizin-Professorin von der University of California Monica Gandhi erläutert:
Was Präsident Biden und die Weltgesundheitsorganisation meinen (die WHO sagte letzte Woche, das Ende sei in Sicht) ist, dass COVID nie vorbei ist, weil das Virus nicht auszurotten ist, aber dass die Notfallphase endet, wenn die Sterblichkeit niedriger ist als jemals zuvor seit März 2020 und wenn wir biomedizinische Fortschritte haben.
Die Covid-19-Pandemie ist natürlich nicht auf die USA begrenzt, sondern eine globale Krise. Als grenzüberschreitendes Phänomen kann die Pandemie daher gar nicht von einem Land bzw. einem Regierungschef für beendet erklärt werden, auch nicht vom Präsidenten des mächtigsten Staats der Welt. Dafür ist die Weltgesundheitsorganisation WHO da, die das bisher nicht getan hat.
Und das hat seinen Grund: In der letzten Woche sind weltweit etwa 16.000 Menschen an COVID-19 gestorben, während etwa 2,5 Milliarden Menschen bisher nicht eine einzige Dosis eines Impfstoffs erhalten haben. Auch weisen Epidemiologen darauf hin, dass unklar ist, wie sich die Pandemie im Herbst und Winter entwickeln wird. Der Virologe Christian Drosten sagte im Interview mit der Süddeutschen Zeitung zum Beispiel, dass er mit einer starken Corona-Welle noch vor Dezember in Deutschland rechne. Eine Entwarnung hält er für voreilig.