Anschlag auf Skripal und der Wille zur Eskalation des Konflikts mit Russland
Neben der britischen Regierungschefin hat auch die EU ein Interesse an der Eskalation, tragfähige Beweise für eine Verantwortung des Kremls wurden bislang nicht bekannt
Die britische Regierungschefin Theresa May hat es erreicht, die EU und auch die USA wegen des mutmaßlichen Giftanschlags auf den russischen Ex-Spion und Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julia hinter sich zu bringen und Russland zu beschuldigen, ohne bislang Beweise dafür vorgelegt zu haben. Erst spät wurden Proben des angeblichen Nervenkampfstoffs Nowitschok, das während des Kalten Kriegs in den 1970er und 1980er Jahren in der Sowjetunion entwickelt worden sein soll, der internationalen Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) übergeben, deren Befund aber noch nicht vorliegt.
Der Schulterschluss der EU mit May war zur Stärkung ihrer Position höchst wichtig und kam sehr gelegen, da sie auch in der eigenen Partei auch wegen der Brexit-Verhandlungen mit der EU weiter an Rückhalt verloren hat. Jetzt ist mit dem neu-alten Feind aus dem Kalten Krieg der Brexit in den Hintergrund gerutscht und ihr Regierungsamt wird vorerst nicht mehr in Frage gestellt.
Offenbar hat sie auch für viele Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten gekonnt hoch gepokert. In der Abschlusserklärung des Gipfels von Freitag bezieht auch die EU eindeutig Stellung gegen Russland, auch hier wird aus eigenen Interessen heraus voreilig ein Konflikt mit Russland eskaliert, zumindest wurde auch in der Erklärung kein Hinweis auf neue Informationen seitens der Briten genannt. Es heißt lediglich, dass man "andauernde Untersuchung" unterstütze, aber mit der britischen Regierung übereinstimme, dass "die Russische Föderation höchstwahrscheinlich verantwortlich ist und es keine plausible alternative Erklärung gibt". Der Europäische Rat erklärt auch noch die uneingeschränkte Solidarität mit Großbritannien, als ginge es bei dem weiter unaufgeklärten Fall, bei dem Skripal und seine Tochter sowie 21 weitere Menschen verletzt wurden, um die Auslösung des Beistandpaktes.
Die von rechtspopulistischen Parteien in vielen Ländern unter Druck stehende EU ringt angesichts des Brexits, der Suche nach neuer Finanzierung und des nur verschobenen Handelsstreits mit den USA sowie internen Zwisten etwa mit Polen oder Ungarn nach einem neuen Selbstverständnis. Auch hier liegt nahe, dass gerne der Konflikt mit einem externen Gegner aufgegriffen wird, um innere Einheit und gemeinsame Handlungsmöglichkeiten zu finden. So wird der Vorfall dramatisch hochgespielt und daraus eine Bedrohung durch chemische, biologische, radiologische und nukleare Risiken abgeleitet, gegen die man sich schützen müsse. Gefordert wird eine engere Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten und mit der Nato. Aus dem Vorfall, sollte es sich tatsächlich um einen Giftanschlag handeln, wird gleich noch abgeleitet, dass die Mitgliedsstaaten sich gegen "hybride Bedrohungen" aufrüsten müssten, also im Bereich von Cyberwar, strategischer Kommunikation (!) - so viel zur Verbreitung von Propaganda und Fake News - und Spionageabwehr.
Erwogen wird offensichtlich, dem Tit-for-Tat-Spiel aus dem Kalten Krieg zwischen Großbritannien und Russland - die USA waren schon wegen der "Beeinflussungsoperationen" bei der Ausweisung von russischen Diplomaten vorangegegangen - nicht passiv zuzuschauen. Der EU-Botschafter in Russland wurde schon mal abgezoegen. Angeblich wollen bis zu 20 EU-Mitgliedsstaaten auch den Konflikt mit Russland zuspitzen und ihrerseits russische Diplomaten auszuweisen. Die baltischen Staaten sind ganz vorne dabei, auch Tschechien, wo über ein EU-Referendum diskutiert wird, spielte vorne mit. Nach der britischen Times würden aber bis zu 20 Länder, darunter auch Deutschland, Frankreich, Polen oder die Niederlande, eine Ausweisung von russischen Diplomaten erwägen.
Auch die russische Regierung könnte ein Interesse gehabt haben, den Doppelagenten zur Warnung für andere Überläufer medienwirksam umzubringen, so dass sich niemand sicher fühlen kann. Das könnte auch einen Schub bei der Präsidentschaftswahl für Putin ergeben haben. Der war allerdings kaum notwendig, der Konflikt mit der Nato war auch kurz vor der Wahl heiß genug. Und dass ein solcher Anschlag - schließlich ist Skripal bereits 2010 aus dem Gefängnis heraus u.a. gegen die russische Ex-Spionin Anna Chapman ausgetauscht worden - gerade jetzt von Kreisen im Kreml umgesetzt wird, ist kaum nachvollziehbar.
Es wäre also Zeit genug gewesen, ihn kalt zu stellen, wobei die Frage überhaupt ist, warum man ihn freigelassen haben sollte, wenn er noch als gefährlich eingeschätzt worden wäre. Dass ein Anschlag ausgerechnet vor der Präsidentschaftswahl und vor der Fußballweltmeisterschaft in Russland gemacht wurde, wäre doch ziemlich irrational aus Kreml-Sicht. Eher denkbar, wenn es sich nicht um kriminelle Verstrickungen handelt, wäre, dass man Russland vor der Fußballweltmeisterschaft dadurch schaden und womöglich einen Boykott erreichen wollte.
Bekanntlich weist Russland jede Verantwortung für den Vorfall von sich und hat sich angeboten, bei der Aufklärung mitzuhelfen. Angeblich verweigert die britische Regierung aber, Russland zur Untersuchung Proben des Gifts zu übergeben, es soll sich um A-234 handeln. Zudem muss Großbritannien auch über Kenntnisse des Nervengifts Nowitschok, eigentlich handelt es sich um eine ganze Gruppe von Verbindungen, verfügen.
Es handelt sich um binäre Wirkstoffe aus mindestens zwei Vorläufersubstanzen, die erst durch Vermischung wirklich gefährlich werden. Man könnte theoretisch zumindest die Vorläufersubstanzen an zwei verschiedenen Orten verstreuen, bei Personen, die beide besuchen, könnte durch Vermischung das Gift erst scharf gemacht werden. Das könnte in Salisbury der Fall gewesen sein, da man Spuren im Pub The Mill und im Resaurant Zizzi gefunden hat, wo die Skripals an dem Tag gewesen sind, bevor sie auf der Parkbank gefunden wurden. Möglicherweise befand sich auch eine Vorläufersubstanz im Koffer von Julia, die einen Tag zuvor von Russland nach Großbritannien geflogen war.
Identifizierung des Nervengifts scheint nicht eindeutig zu sein
Im Rahmen der OPCW-Ermittlungen gestattete ein britischer Richter am 22. März eine Blutentnahme bei den sedierten Skripals. Der Befund der OPCW muss noch abgewertet werden, in Großbritannien ist man nach einer Laboruntersuchung des Defence Science and Technology Laboratory in Porton Down sicher, dass es sich um "ein Nervengift der Nowitschok-Klasse oder ein eng verwandtes Gift" handelt.
Genau identifiziert ist es damit nicht. Das scheint auch ein Problem zu sein, zumal eine genaue Identifizierung voraussetzen würde, dass in dem Militärlaboratorium zumindest Referenzsubstanzen vorhanden sind, mit denen man Proben vergleichen kann. Vermutlich wurde in Großbritannien und anderen Ländern mit solchen Giften auch experimentiert. Der russische Wissenschaftler Wil Mirsajanow, der 1992 das angebliche Sowitschok-Programm öffentlich machte, ist 1994 in die USA emigriert. Allerdings wurde das Programm nach ihm in Usbekistan ausgeführt.
Schon um solche neuen Nervengifte identifizieren und behandeln zu können, muss mit ihnen experimentiert werden, was heißt, dass sie auch hergestellt werden müssen. Abwegig ist jedenfalls nicht, solange man nicht direkt nachweisen kann, dass eine Substanz in einem bestimmten Labor hergestellt wurde, dass ein solches Nervengift auch aus anderen Quellen stammen könnte.
"Wie wollen sie sagen können, woher es kommt?"
Vladimir Uglev, ein früherer sowjetischer Chemiewaffenwissenschaftler, widerspricht zwar der russischen Regierung, die leugnet, dass es ein Programm unter dem Namen Nowitschak gegeben habe. Er sagt, möglicherweise habe er das Gift seinerzeit selbst hergestellt. Aber das werde man wahrscheinlich nie herausfinden können. Er sei bereits 1995 von der Polizei bei einem ähnlichen Vorfall befragt worden, als in Moskau der Banker Ivan Kivelidi und sein Sekretär durch ein Nervengift getötet worden waren. Damals habe er erkannt, dass es sich um ein Nervengift gehandelt habe, das er und seine Arbeitsgruppe in einem Labor in Shikhany hergestellt hätten.
Allerdings stellte sich heraus, dass Leonid Rink, ebenfalls ein Chemiewaffenwissenschaftler, aus seinem Labor Nervengift mit nach Hause genommen und verkauft hatte. Mit dem Zerfall der Sowjetunion ist mit den Chemiewaffen nicht sehr aufmerksam umgegangen worden, die nicht nur in Russland, sondern auch in anderen Staaten des Ostblocks hergestellt und aufbewahrt wurden.
Da schon einmal wahrscheinlich Nervengift aus dem Foliant-Programm einer Verbrecherbande verkauft wurde, könnte es durchaus sein, dass noch mehr im Umlauf aus der damaligen Zeit ist, sofern es heute noch wirksam sein kann. Uglev meint, es sei vorstellbar dass die Vorläufersubstanzen 50 Jahre lang stabil sein könnten. Es müsste mithin, was die britische Regierung behauptet, kein Staat hinter dem Anschlag stehen, es könnte sich auch um organisiertes Verbrechen oder um Auseinandersetzungen zwischen russischen Oligarchen handeln, die sich in Großbritannien aufhalten.
Der Guardian fragte Uglev, ob es überhaupt möglich sei, das in Salisbury möglicherweise verwendete Nowitschok auf ein bestimmtes Land oder ein Labor zurückzuverfolgen, dass die Wahrscheinlichkeit nahe Null liege: "Sie haben das Profil der Substanz in Salisbury, aber keine Daten über die Substanz in der Datenbank. Wie wollen sie sagen können, woher es kommt?" Dazu müssten sie frühere Proben von sowjetischen Laboren erhalten. 1995 hätte die russische Polizei auf diese Weise ihn schnell nach dem Tod von Kivelidi identifiziert. Dazu müsste aber Großbritannien mit Russland kooperieren.
Im Augenblick stehen die Zeichen aber auf Eskalation. So sagte ein Schulfreund von Skripal, Vladimir Timoshkov, der BBC, dieser habe bedauert, ein Doppelagent gewesen und zum Verräter geworden zu sein und einen Brief an Wladimir Putin geschrieben, in dem er um Vergebung gebeten habe. Er wäre gerne nach Russland gereist, um seine Mutter und andere Verwandte wieder zu sehen. Aber das basiert nur auf der Aussage des Schulfreundes, der mit Skripal 2012 telefoniert haben will, der Kreml streitet ab, einen solchen Brief erhalten zu haben.