Anthrax-Hysterie in den amerikanischen Medien
Die Medien sind selbst zum Opfer der Ereignisse geworden
Toby Usnik bedauert. "Leider können Sie nicht persönlich für ein Interview vorbeikommen wegen der Sicherheitsvorkehrungen im Haus", sagt der Sprecher der New York Times. Am Telefon erklärt er, wie sich das Verlagshaus am Times Square in den letzen Wochen verändert hat. Seitdem die frühere Kairo-Korrespondentin Judith Miller am 12. Oktober in ihrem Times-Büro einen Umschlag mit weißem Pulver erhalten hat, ist nichts mehr, wie es war. Zwar stellte sich dieser Brief im Nachhinein als harmlos heraus, doch ein weiterer Umschlag, der im Times-Büro in Rio de Janeiro eingetroffen war, ergab Spuren von Anthrax. In der New Yorker Zentrale wurde die Postzustellung nach einem weiteren Vorfall vorübergehend ausgesetzt. Usnik beschreibt die Situation mit professioneller Vorsicht. "Wir tun unser Bestes, zum Business as usual zurückzukehren, aber wir sind ja auch Menschen".
In den New Yorker Medienhäusern ist nach den bestätigten Anthrax-Fällen bei den TV-Networks NBC und ABC sowie dem Boulevardblatt New York Post Vorsicht eingekehrt. Besucher werden entweder gar nicht vorgelassen oder müssen abgeholt und mit einem sichtbaren Ausweis ausgestattet werden. Die Post wird etwa bei CBS gar nicht mehr an die Redakteure weitergeleitet, sondern im Postzimmer von Angestellten aufgemacht, die Gummihandschuhe und teilweise auch Gesichtsmasken tragen. Die Wochenzeitung Village Voice schließt jetzt ihre Büros am Wochenende. "Einige haben vorgeschlagen, wir sollten doch unsere Post künftig auf dem Parkplatz öffnen", sagt Alix Paultre von dem Hearst-Magazin Electronic Products. "Das ist schon eine extreme Form von Paranoia".
Die Anthrax-Hystrie legt die Nerven blank. In Des Moines wurde ein Fernsehreporter gefeuert, weil er im Rahmen eines schlechten Scherzes Gesichtspuder in der Redaktion verstreute. Obwohl klar war, dass es sich dabei um einen Gag handeln sollte, bekam der Chefredakteur den Spaß in den falschen Hals.
Viele Medienhäuser bieten ihren Angestellten, die unter den psychologischen Folgen des World Trade Center Angriffs, der Anthrax-Panik und nebenbei auch ständiger Überlastung leiden, Therapiesitzungen an. Bei CBS gab es nach dem ersten Milzbrand-Fall ein Meeting, an dem alle Mitarbeiter teilnehmen und Fragen über ihre Sicherheit stellen konnten. Die Redaktionsleiter und Geschäftsführer verschicken täglich Emails mit Testergebnissen und Sicherheitsvorkehrungen. "Ich habe das Gefühl, das Management leistet gute Arbeit", sagt Dean Cox, Redakteur bei der Webseite CBS.com.
Das beklemmende Gefühl der ersten Tage ist bei ihm angesichts der peinlich genauen Sicherheitsvorkehrungen einem gewissen Pragmatismus gewichen. "Wenn überhaupt, dann machen wir jetzt eher Witze darüber", erklärt er. In einer im Haus kursierenden Email heißt es zum Beispiel: "Gehen Sie am 28. Oktober nicht auf die Toilette. Das CIA berichtet, dass an diesem Tag ein großer Anschlag geplant ist. Jeder, der sich am 28. aufs Klo setzt, wird von einem Alligator in den Hintern gebissen." Einer der CBS-Grafiker hat gar ein Logo entworfen, das auf der CBS-Hitshow "Survivor" basiert und den Slogan "Anthrax: Übervorteilen – Ausspielen – Überleben" präsentiert.
Obwohl die selbsternannte Medienhauptstadt der Welt wunderbar geeignet ist, um wegen der Anthrax-Berichterstattung über sich selbst in eine Massenhysterie zu verfallen, versuchen die Nachrichtenchefs Stimmungsmache zu unterdrücken. "Ich muss mich jeden Tag vor meiner Frau und meinen drei Söhnen rechtfertigen, und sie haben Angst", sagte ABC-Nachrichtenmann Paul Slavin der Los Angeles Times. "Ich habe nicht die Absicht, ihnen noch mehr Furcht einzujagen". Selbst Tom Goldstein, Dekan der Journalistenschule der New Yorker Columbia Universität, stimmt zu. "Ich finde nicht, dass übertrieben wird. Dies ist eine reale Bedrohung, und sie dreht sich jeden Tag weiter".
Doch mögen auch die Mainstream-Medien im Rahmen ihrer Pflichterfüllung bleiben, gibt es noch immer die marktschreierischen Praktiken so meinungslastiger Kanäle wie den Nachrichtensender Fox News, der zu Rupert Murdochs News Corporation gehört.
Einer der beliebtesten Stimmungsmacher ist der konservative Talkshow-Host Bill O'Reilly, dessen abendliche Sendung "Der O'Reilly-Faktor" selbst Hauptkonkurrenten Larry King von CNN ernsthaft Konkurrenz macht. Der hagere Populist schreckt vor allem vor Pauschalitäten nicht zurück. "Wenn Bush sagt, wir werden die Bösewichter bekommen, dann stimme ich zu", sagte er in einer seiner jüngsten Sendungen. "Mehr muss ich gar nicht wissen."