Anti-Aufklärung? Kriegstechnologie?

Seite 3: Zwei Ordnungen der Kybernetik

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Gewissermaßen als Beginn der Kybernetik als wissenschaftliche Disziplin - der Begriff selbst ist antiken Ursprungs - werden in den Kultur- und Medienwissenschaften die schon erwähnten zehn Macy-Konferenzen begriffen, bei denen der Physiologe Warren McCulloch den Vorsitz führte. Gleichwohl müssen hier neben der schon genannten Arbeit "Behavior ..." noch mindestens zwei weitere Publikationen genannt werden, deren Veröffentlichungszeitpunkte deutlich vor den Konferenzen liegen. Hierzu gehört der ebenfalls 1943 erschienene Aufsatz "A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity" von Warren McCulloch und Walter Pitts8, der ein erstes formales Konzept zur Beschreibung neuronaler Netzwerke liefert und somit auch den Beginn der Neuroinformatik markiert.

Und bereits 1945 bricht eben jener Warren McCulloch mit dem Alleinanspruch der Hierarchie als (lineares) Ordnungsschema. In "A Heterarchy of Values determined by the Topology of Nervous Nets"9 stellt er der Hierarchie - am Beispiel der platonischen Begriffspyramide, quasi der Mutter aller Hierarchien - die Heterarchie (Nebenordnung, Ko-Ordination) als gleichberechtigtes Komplementärprinzip an die Seite. Hiermit kritisiert er - unter Bezugnahme auf neuronale Strukturen (Topologien) im Rückenmark von Wirbeltieren - explizit den wissenschaftlichen Alleinvertretungsanspruch der klassischen Aristotelisch-Booleschen zweiwertigen Logik als unzureichend.

Diese Arbeit kann auch als Vorspiel zu dem begriffen werden, was Heinz von Foerster und Kollegen später als die Kybernetik zweiter Ordnung (2nd-order cybernetics) bezeichneten. Sie markiert des weiteren einen Grenzstein dessen, was heute mit den aktuellen Verfahren und Modellen der Neuroinformatik (ANNs, deep learning, etc.) überhaupt möglich ist. Bemerkenswerterweise wird dieser Grenzstein in Grundlagenwerken der Neuroinformatik entweder "vergessen", oder die Autoren haben überhaupt keine Kenntnis von ihm.

Die Unterschiede zwischen den Kybernetiken erster und zweiter Ordnung hat Francisco Varela am knappsten und griffigsten dargestellt. Die Kyb. erster Ordnung beschäftigt sich mit beobachtbaren Systemen, die Kyb. zweiter Ordnung mit beobachtenden Systemen.

Damit wird deutlich, dass im 2nd-order-Bereich das - menschliche - Subjekt ins Spiel gelangt. Eine bislang den Geisteswissenschaften vorbehaltene Domäne. "Kybernetik untersucht alle Phänomene in Unabhängigkeit ihres Materials, so sie regelgeleitet und reproduzierbar sind", bemerkt hierzu W. Ross Ashby.10 Hierin implizit enthalten ist der Kern einer neuen wissenschaftlichen Denkkultur, die den klassischen Methodendualismus zwischen den - idiographischen - Geistes- oder Humanwissenschaften und den subjektlosen - nomothetischen - Naturwissenschaften in Frage stellt. Bei konservativ ausgerichteten Wissenschaftlern beider Bereiche kann dies jedoch Unbehagen und Misstrauen gegenüber der Kybernetik induzieren.

Kybernetisches Denken - insbesondere das der 2nd-order Kybernetiker - firmiert somit als eine wissenschaftliche Geste, die sich gegen die bestehenden - wissenschaftlichen und gesellschaftlich-politischen - Verhältnisse richtet! Die eingangs zitierte Bemerkung von Foersters ist nur eine von überaus zahlreichen Belegstellen bei zahlreichen Autoren der Kybernetik.

Die Charakterisierung der Kybernetik im medienwissenschaftlichen Narrativ als Kriegswissenschaft und Methodenbaukasten für soziale Kontrolle, Steuerung und Manipulation steht also belegbar in einem überaus merkwürdigen Widerspruch zu vielen kybernetischen Primärquellen und darüber hinaus zur Selbstwahrnehmung und Selbstpräsentation vieler Kybernetiker. Albert Müller merkt dazu an: "Nicht wenige von ihnen sahen sich selbst als politisch links oder liberal, mitunter gar als anarchistisch."

Nun kommen aber die Konnotationen und Interpretationen der oben zitierten Personen und so einiger weiterer Autoren nicht von ungefähr. Daher gilt es, die Spur dieser Realitätskonstruktionen zum Begriff der Kybernetik einmal zu untersuchen, zu versuchen, sie nachzuzeichnen.

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