Arbatows Alarmruf: Sind wir blind für die Zeichen eines kommenden Atomkriegs?

Russische Topol-M

Russische Topol-M. Bild: Novikov Aleksey/ Shutterstock.com

Die nukleare Bedrohung wächst. Experten warnen vor einer Senkung der Einsatzschwelle für Atomwaffen. Doch was treibt diese gefährliche Entwicklung voran?

Vor dem Hintergrund des anhaltenden Konflikts um die Ukraine wächst die internationale Besorgnis über Atomwaffen. In einem Interview mit der liberalen russischen Zeitung Nesawissimaja Gaseta warnte nun der Vorsitzende des Zentrums für internationale Sicherheit am Moskauer Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen, Alexej Arbatow, vor einer Eskalationsspirale. Bemerkenswert: Arbatow teilt gegen die westlichen militärischen Akteure und Russland gleichermaßen aus.

Anpassungen der russischen Nukleardoktrin

Im Gespräch mit dem Politikchef der Zeitung, Juri Paniew, betont Arbatow, dass es regelmäßige Anpassungen der russischen Nukleardoktrin gebe. Angesichts der dramatischen Veränderungen der geopolitischen Lage seit Sommer 2020 sei es nicht verwunderlich, dass Änderungen in Betracht gezogen würden.

Die jüngste Änderung der russischen Nukleardoktrin könne in eine solche Senkung der Schwelle für den Einsatz von Nuklearwaffen münden – auch wenn die genauen Formulierungen bisher nicht vorliegen. Präsident Wladimir Putin hatte jüngst eine Verschärfung der Einsatzrichtlinien für russische Atomwaffen in Aussicht gestellt.

Atomare Reaktion auf konventionelle Angriffe?

Die Doktrin sieht zwei Hauptfälle für den Einsatz von Atomwaffen vor: als Reaktion auf einen nuklearen Angriff auf Russland oder seine Verbündeten und im Falle einer Aggression mit konventionellen Waffen, die die Existenz des Staates bedroht.

Über den zweiten Punkt wird intensiv diskutiert. Es geht um die Frage, ob Russland auf Raketenangriffe oder die Invasion feindlicher Streitkräfte auf seinem Territorium mit Atomwaffen reagieren soll.

Der Westen und die Angst vor einer nuklearen Eskalation

Entgegen einigen Stimmen in Russland, denen zufolge der Westen seine Angst vor einer nuklearen Eskalation verloren habe, stellte Arbatow klar, dass auch im Westen große Sorge vor einer solchen Entwicklung herrsche. Dies sei der Grund, warum die USA keine Waffen an Kiew geliefert hätten, die auf russisches Territorium abgefeuert werden könnten.

Mögliche Veränderungen und die Gefahr eines Atomkrieges

Die Möglichkeit, dass die Liste der Fälle, in denen Atomwaffen eingesetzt werden können, erweitert wird, zum Beispiel als Reaktion auf Angriffe auf lebenswichtige wirtschaftliche oder militärische Einrichtungen, könnte die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen senken.

Arbatow warnt jedoch vor zwei gefährlichen Missverständnissen: Im Westen glaube man, dass Russland keine Atomwaffen einsetzen würde, während in Russland selbst der Glaube vorherrsche, dass ein begrenzter Atomwaffeneinsatz keinen großen Krieg auslösen würde.

Beide Annahmen könnten verheerende Folgen haben und zu einer unkontrollierbaren nuklearen Eskalation führen.

Die überarbeitete US-amerikanische Eindämmungsstrategie

Zu den jüngsten Entwicklungen in der amerikanischen Eindämmungsstrategie gehören das Konzept der gleichzeitigen Eindämmung von zwei nuklearen Supermächten – Russland und potenziell China – sowie die Abkehr von der Idee eines begrenzten Nuklearkrieges zugunsten einer koordinierten Strategie konventioneller und nuklearer Angriffe.

Gefährliche Zuspitzung

Die Welt steht vor einer potenziell gefährlichen Entwicklung in der nuklearen Abschreckungspolitik. Während Russland möglicherweise die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen senkt, bleibt der Westen besorgt über eine Eskalation.

Ein Dialog über nukleare Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland scheint nur unter sehr spezifischen Bedingungen möglich, die derzeit nicht gegeben sind. Die internationale Gemeinschaft steht vor der Herausforderung, mit diesen Spannungen umzugehen und die Sicherheit zu wahren.

Die Quelle

Die Nezavisimaya Gazeta, eine der einflussreichsten Tageszeitungen der frühen postsowjetischen Ära, wurde 1990 gegründet und gilt als Stimme der Moskauer Intelligenzija.

Die Zeitung gehört zu den gemäßigt oppositionellen Medien und äußert sich gelegentlich kritisch gegenüber der Putin-Regierung, etwa hinsichtlich der Kontrolle der Zentralen Wahlkommission und der Russischen Akademie der Wissenschaften. 2014 kritisierte das Blatt offen die Einnahme der Krim durch die Russische Föderation.