Rote Linien und leere Worte: Das nukleare Pokerspiel der Großmächte

Joe Biden, Wolodymyr Selenskyj

Bilder Joe Biden / Selenskyj: Maxim Elramsisy / Alexandros Michailidis / Shutterstock.com

Die Spannungen zwischen den Atommächten wachsen. Ein Telefonat des Kanzlers mit Putin sorgt für Aufregung. Steht die Welt vor einem nuklearen Showdown? Ein Gastbeitrag.

Der Anruf des deutschen Kanzlers in Moskau wurde von Selenskyj gerügt. Der hätte die Büchse der Pandora aufgemacht.

Mit einem Telefonat?

In einem Interview vor einigen Wochen äußerte sich Selenskyj auch zu Putin. Verkürzt stellte es der Kyiv Independent vor und titelte am 29. September 2024: "Zelensky: Putin 'afraid' to use nuclear weapons because he 'loves his life'" – Zelensky: Putin "hat Angst", Atomwaffen einzusetzen, weil er "sein Leben liebt"

Denn im Interview mit Fox sagte Selenskyj, er glaube, dass Putin fürchtet, Atomwaffen einzusetzen, weil dieser sein Leben, das Leben, das er führt, liebt. Aber natürlich, so Selenskyj, weiß niemand genau, was in Putins Kopf vorgeht.

Tatsächlich kann niemand zu 100 Prozent wissen, was im Kopf eines anderen Menschen so alles vor sich geht. Aber man bekommt schon eine recht klare Vorstellung, wenn man genau hinschaut und zuhört, was ein Mensch sagt. Wie er es sagt, auch, worüber er schweigt.

Nun berichtete die NYT mit Bezug auf namenlose US-Beamte, der scheidende Präsident Biden hätte die Erlaubnis zur Nutzung weiterreichender Waffen des Westens durch die Ukraine erteilt.

Hat der nun die "Büchse der Pandora" geöffnet?

Diese Nachricht wurde landauf landab kolportiert und zur Gewissheit erklärt. Die Tagesschau berichtete über Bidens "Kurswechsel", aber auch, dass er "zu spät" käme.

Noch nicht einmal Selenskyj wollte diese Kursänderung der US-Administration ausdrücklich bestätigen. Er hüllte sich in wolkige Formulierungen: Die Waffen würden für sich selbst sprechen.

Weder das Pentagon, das Weiße Haus noch das State Department (Stand 18. November 22:43 MEZ) bestätigten den Bericht der NYT.

Biden ist unterwegs zum Treffen der G20. Er traf am Tag der Veröffentlichung der NYT auf den chinesischen Präsidenten. Wenn man die verschiedenen Zusammenfassungen dieses Gesprächs liest, die die Biden-Administration und die chinesische Regierung veröffentlichten, kommt man zum Schluss, dass Biden und Xi ein Gespräch führten, das sich gewaschen hatte.

Die Zeit, in der China ausschließlich versuchte, höflich zu sein, ist definitiv vorbei. Xi schrieb Biden und seinem Nachfolger, denn so muss man den chinesischen "readout" schon verstehen, klare Regeln ins Stammbuch. Wir sind gleich, wir verweigern die Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten. Wir mögen nicht, dass ihr das Eine sagt, und das Andere tut. Wir wollen die Geltung der UN-Charta und Frieden zwischen uns suchen. Weil die Welt ihn braucht. Krieg ist nicht unvermeidlich.

Das sind nur einige ausgewählte Botschaften der chinesischen Seite.

Dass dieses Treffen in irgendeiner Art und Weise genauer besprochen oder darüber nachgedacht wird, verhinderte die NYT-Meldung.

Dennoch, was das Blatt aller Blätter schreibt, muss ernst genommen werden, und so kommentierten auch viele.

Trump und Trump jr. reagierten wütend: Eine scheidende Administration würde einen Dritten Weltkrieg hinterlassen. Der ganze militärisch-industrielle Komplex gehöre zerschlagen.

Russland reagierte ebenfalls scharf. Eine derartige Entscheidung würde die Qualität des Konflikts verändern. Die USA, Großbritannien und Frankreich würden dadurch zu direkten Kriegsteilnehmern. Russland werde entsprechend antworten.

Bloomberg berichtete am 12. September 2024, was der russische Präsident zu einer US-Freigabe für weitreiche Waffen an die Ukraine sagte.

Laut Deutschlandfunk vom 18.11.2024 unterstützte die deutsche Außenministerin, aber auch die EP-Abgeordnete und Vorsitzende des Unterausschusses Verteidigung Strack-Zimmermann, die angebliche neue Linie von Biden: Endlich! Längst überfällig!

Auf X war unter anderem zu lesen:

Durch die Ankündigung der Entsendung von ATACMS dreht Biden nicht an der Eskalationsschraube, sondern versucht Eskalationskontrolle zu betreiben. Ansonsten hätte er sie ohne Ankündigung geliefert. Aber das ist für die ganzen Hysteriker*innen hier zu kompliziert zu verstehen.

Immerhin versuchte der Verfasser des Textes, Carlo Masala, durch die Sternchensetzung wie ein Ausbund der Vernunft und der Moderne des 21. Jahrhunderts zu wirken.

Ich habe mich nicht der Mühe unterzogen, herauszufinden, wer alles sonst noch begeistert war, dass nun der Dritte Weltkrieg vor der Tür stehen könnte.

Ganz generell zeigt die ganze Geschichte, wie nahe wir dem Ende der Welt gekommen sind.

Ich werde das nicht mehr als "russisches Roulette" bezeichnen. Dieses Roulette wird westlich angetrieben.

Das, was die NYT für bare Münze nahm, wäre das Ruchloseste, was ein scheidender US-Präsident der Welt antun könnte. Nach dem Motto: "Nach mir die Sintflut". Biden ist zwar alt, gebrechlich, aber auch er liebt das Leben, den Strand, Eis. Viel entscheidender: Er wird den G20 gegenüberstehen. Mit einer solchen Entscheidung auf dem Buckel?

Das ist kaum zu glauben.

Im bereits erwähnten Treffen mit Xi hörte er (bzw. seine Berater), dass "Rote Linien" eines Landes, also dessen elementare Sicherheitsinteressen, nicht verhandelbar sind.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Zeit, in der der Westen glaubte, die Meinungen anderer Länder interessierten nicht, abgelaufen ist. Ich denke auch, dass einer wie der Oberbefehlshaber der Nato bzw. der US-Truppen in Europa, General Cavoli, sich darüber auch völlig im Klaren ist.

In dessen Szenario, das er sowohl vor dem US-Kongress als auch in Aspen zum Ausgang des Ukraine-Krieges lieferte, kam ein Dritter Weltkrieg nicht vor. Ein sehr tiefer Konflikt mit Russland schon. Auch der Nato-Admiral Rob Bauer kam zum gleichen Schluss: Russland ist nicht Afghanistan.

Aber wie die jüngste Berichterstattung der Medien zur angeblichen Bidenschen Beschlussfassung auch zeigte: Es sind immer noch viel zu viele, die sich – zumindest geistig – wie die Lemminge in einen Krieg stürzen wollen, der längst verloren ist und dennoch ins Nukleare entarten könnte.

Dank Chatham House lernte ich, dass Russland die Verpflichtung der fünf Atommächte vom Januar 2022, auf keinen Fall gegeneinander in den Krieg zu ziehen, eigenwillig übersetzte.

Diese wiederholten Anfang Januar 2022 feierlich:

Wir betrachten die Vermeidung eines Krieges zwischen Atomwaffenstaaten und die Verringerung strategischer Risiken als unsere vorrangige Verantwortung.

Darauf folgte das Versprechen der Fünf (eigene Übersetzung):

Wir bekräftigen, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf.

Russland aber übersetzte den zweiten Satz dieser Absprache anders: Für "geführt" wurde das russische Äquivalent für "unleashed" gewählt.

Im Cambridge Wörterbuch ist die Bedeutung von "unleashed" wie folgt beschrieben: "etwas Mächtiges geschehen lassen oder beginnen, das, wenn es einmal begonnen hat, nicht mehr kontrolliert werden kann." (eigene Übersetzung)

Mit einem solchen Verständnis hätte Russland politisch, aber das wäre wiederum Chatham House nie in den Sinn gekommen, denn dessen Argumentation zielte in eine andere Richtung (Russland drohe nur mit Atomkrieg), nicht nur die Verpflichtung übernommen, selbst keinen Atomkrieg zu beginnen, sondern auch andere daran zu hindern.

Was immer die richtige Interpretation ist: Vorsichtshalber sei an dieser Stelle erneut ganz deutlich gesagt: Nichts ist es wert, die Erde zu verheeren. Es gibt so etwas wie ein Menschenrecht auf Zukunft. Das gilt universell.

Die Büchse der Pandora muss geschlossen bleiben.

Nachtrag: Ich erwarte nicht, dass "Falken" das verstehen. Obwohl es stolze Tiere sind, gut für die Jagd geeignet. Für die Übermittlung von Nachrichten sind sie eher untauglich. So fiel diese wichtige Rolle den Tauben zu.

Dieser Text erschien zuerst auf der Substack-Seite von Petra Erler.

Petra Erler ist Geschäftsführerin der Strategieberatung European Experience Company GmbH. 1990 war sie nach den ersten freien Wahlen in der DDR Staatssekretärin für Europäische Angelegenheiten. Von 2006 bis 2010 war sie die Kabinettschefin von EU-Kommissar Günter Verheugen.