America First, Frieden zuletzt: Bidens fatale Nahost-Strategie

Joe Biden und Benjamin Netanyahu sitzen vor den Fahnen beider Länder

Biden, Netanjahu. Bild: Prashantrajsingh/ Shutterstock.com

Biden setzt im Nahost-Konflikt auf Eskalation. Seine Strategie folgt dem Prinzip "America First". Doch was bedeutet das für den Frieden in der Region?

Am 7. Oktober 2023, dem Tag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel, berichtete CNN von der unmittelbaren Reaktion der USA. Aber CNN schaute auch auf die vergangenen zwei Jahre zurück. Zwischen Biden und Netanjahu bestünde ein kompliziertes Verhältnis, weil Biden dessen geplante Justizreform kritisiert hatte.

Außerdem habe er – das Weiße Haus – von Netanjahu Schritte zu mehr Rechten für die Palästinenser und in Richtung einer Zwei-Staaten-Lösung verlangt. Das sei eine Bedingung für die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Saudi-Arabien und Israel gewesen. Das alles sei nun durch den Terrorangriff der Hamas eher unwahrscheinlich geworden.

CNN verwies auch darauf, dass der Umgang mit Israel und dem Gaza-Konflikt ein US-Wahlkampfthema ist. Biden wurde von republikanischer Seite vorgeworfen, unentschieden und schwach zu sein. Mit der Freigabe von Geldern des Iran (im Kontext der Befreiung von US-Geiseln) habe er "Israel betrogen".

Tatsächlich griff Trump Biden jüngst wegen dessen Aussage an, Israel solle nicht mit Angriffen auf nukleare Installationen der Iraner vergelten. Wo denn sonst, fragte Trump. Um den Rest könne man sich später Gedanken machen.

Am 10. Oktober 2023 titelte der Guardian mit Bezug auf israelische Militärkreise, genauer gesagt, die aktuelle Lageeinschätzung der USA, dass es (noch) keine Hinweise gebe, dass der Iran hinter dem Angriff der Hamas gesteckt oder ihn geplant hat.

Aber wenn es um Israel geht, geht es immer auch um den Iran. Das führt direkt in das Jahr 2001. In Reaktion auf den Terror-Anschlag auf das World Trade Center am 11. September hatte das Pentagon nach sechs oder sieben Wochen einen kompletten Kriegsplan gegen sieben Länder innerhalb von fünf Jahren parat: Irak, Syrien, den Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und schließlich gegen den Iran.

Der Iran ist bis jetzt nicht "abgearbeitet"

Der CIA-Whistleblower John Kiriakou, der die Folterpraktiken der CIA enthüllte, erzählte, dass er als Assistent des CIA-Direktors Tennet an einem Briefing unmittelbar vor der Irak-Invasion im März 2003 teilgenommen hatte. Dort sagte ein US-General, im August könne man im Iran sein.

Tennet habe darauf sein Mikrofon ausgeschaltet, sich zu ihm umgedreht und gefragt, über welche Stadt der General gesprochen habe: Bagdad oder Teheran? Kiriakou bestätigte, es sei über Teheran gesprochen worden. Darauf sagte Tennet, diese Leute hätten den Verstand verloren.

Seither ist sehr viel Wasser die Flüsse der Welt hinuntergeflossen. Aber die grundlegende Logik hat sich nicht geändert: Militärische Macht ersetzt Diplomatie, das Kriegsrecht und das humanitäre Völkerrecht liegen darnieder, wer einen Konflikt "nur" geografisch ausweitet und wer ihn "antreibt", ist Interpretationssache, und "Regime Change" bleibt eine bevorzugte Option.

Jüngst war bei Axios, aber auch in der Washington Post unter Bezugnahme auf US-Quellen zu lesen, nun sei die Zeit für den Libanon gekommen.

Das Wort "Regime Change" fällt nicht, aber was soll man denken, wenn darüber philosophiert wird, die mutmaßliche Schwächung der Hisbollah auszunutzen, um den Einfluss der libanesischen Armee zu stärken und einen neuen Präsidenten zu inthronisieren? Ignatius sprach von einem "Sicherheitsvakuum" und nahm es als "Gelegenheit, die Souveränität des Libanons neu aufzubauen".

Was die USA militärisch nicht mehr selbst leisten wollen (oder können), wird ausgelagert an Willige, ganz wie zu teuer gewordene Produktionen.

Aber die Begleitmusik ist immer die gleiche: Überall sind es Teufel in Menschengestalt, die Frieden, Freiheit und Demokratie bedrohen. Die müssen vernichtet werden. Das ist legitim. Dazu braucht es Waffen, Geld, militärisches Know-how. Das Ganze wird begleitet von händeringendem Barmen um die armen zivilen Opfer, die ab einem nicht näher definierten Zeitpunkt "zu viele" werden.

Glaubt man einer ehemaligen Angestellten des US-State Department, dann wurde dort im Mai 2024 ein Bericht so umgeschrieben, dass Israel vom Vorwurf befreit wurde, Mitschuld an der Hungerkatastrophe in Gaza zu tragen. Der Guardian berichtete.

Glaubt man einem neuen Bericht des Israeli Yaniv Cogan auf Dropbox, dann ist die israelische Politik des äußerst restriktiven Umgangs mit Hilfsgütern für den Gaza-Streifen, einschließlich der Bombardierung von Hilfslieferungen, mit den USA abgesprochen.

Oder ist es so, wie Journalisten jüngst gegenüber dem US-Präsidenten argwöhnten: Hat Biden die Kontrolle über Israel verloren? Hatte er sie je?

Wie war das mit der UN-Sicherheitsratsresolution, einem Drei-Phasen-Plan, für einen Waffenstillstand, den die USA im Juni 2024 vorlegten und auf den Biden so stolz im Juli 2024 verwies? Damals sollte "der Diplomatie eine Chance gegeben werden". Es blieb "nur" unklar, ob die Hamas und Israel "an Bord" waren.

Praktisch verhandeln die CIA und der Mossad um diesen Waffenstillstand. Inzwischen sind sich US-Medien einig, dass der Biden-Plan für einen Waffenstillstand im Gaza-Streifen unrealistisch (geworden) ist.

Am 5. August 2024 drehte und wendete sich der Pressesprecher des State Department, als er zur Ermordung des Verhandlungsführers der Hamas, Haniyya (Leiter des Politbüros der Hamas), und die Wirkungen auf die Waffenstillstandsverhandlungen befragt wurde. Das sei sicher "nicht hilfreich" gewesen.

Am 8. August 2024 erklärte das State Department, dass der Tod von Haniyya für den Fortgang der Verhandlungen bedeutungslos sei. Es sei schon vor dessen Tod wahr gewesen, dass Sinwar der abschließende Entscheider sei, wenn es um die Frage der Waffenstillstandsgespräche gehe.

Sinwar ist der Chef der Hamas, als internationaler Terrorist eingestuft.

Die Frage ist, warum musste dann Haniyya sterben? Noch dazu auf iranischem Boden? Weil sich die Gelegenheit ergab?

Am 5. August 2024 ging es auch um das Tit-for-tat zwischen Israel und dem Iran. Alles begann mit einem Anschlag Israels auf ein iranisches Konsulat in Syrien im April 2024. In der Pressekonferenz wurde gefragt, ob der Iran das Recht auf Selbstverteidigung habe.

Die Antwort lautete:

"Deshalb werde ich diese Frage folgendermaßen beantworten: Was richtig ist, das ist eine Frage; was produktiv ist, eine andere. Und letztendlich glauben wir nicht, dass es produktiv ist oder den Interessen von irgendjemandem, auch nicht denen Irans, förderlich ist, weitere Maßnahmen zu ergreifen, seien es Vergeltungsmaßnahmen oder nicht. Jedes weitere Vorgehen Irans steigert das Risiko erhöhter Spannungen. Es erhöht das Risiko einer weiteren Reaktion Israels oder anderer Parteien und bringt uns letztendlich in die Lage, die uns von Anfang an Sorgen bereitet hat: dass es zu einem Konflikt kommt, der außer Kontrolle geraten kann."

Grundsätzlich ist gegen die damals vom State Department vorgetragene Position, die Vergeltungsspirale zu unterbrechen, überhaupt nichts einzuwenden.

Aber solange der Grundsatz gilt, dass militärisches Nichthandeln zur Schwäche erklärt wird, bleibt es eine Milchmädchenrechnung, vom Iran oder von Israel zu erwarten, dass sie nicht wechselseitig vergelten. Solange diese militärische Logik herrscht, bleiben Frieden oder Waffenstillstand außer Reichweite.

Aber wie ist es nun mit der Kriegsausweitung auf den Libanon, den Pager-Explosionen, der Ermordung des Hisbollah-Chefs Nasrallah?

Dazu führte PBS am 1. Oktober 2024 ein Interview mit dem Außenminister des Libanons, Abdallah Bou Habib. Dieser erklärte, sein Land, einschließlich des inzwischen getöteten Chefs der Hisbollah, Hassan Nasrallah, hätte dem Plan von Biden und Macron zu einer 21-tägigen Feuerpause zugestimmt.

So habe das der Libanon den USA und Frankreich auch kommuniziert. Seine Regierung hätte verstanden, dass auch der israelische Ministerpräsident einverstanden war. Er setzte weiter auf die USA als Friedensstifter.

Noch bevor die israelische Attacke auf den Chef der Hisbollah erfolgte, recherchierte die Times of Israel die politische Willensbildung in Israel zum Biden-Macron-Feuerpause-Plan.

Danach hatte Netanjahu entweder nie vor, einer Feuerpause zuzustimmen, oder er beugte sich schließlich Druck innerhalb der Koalition. Ganz eindeutig ist die Berichterstattung an diesem Punkt nicht. Sie insinuiert, dass Netanjahu auch im Fall einer Feuerpause im Gaza-Streifen, das eine sagte und das andere machte.

Laut westlichen Diplomaten war Netanjahu von Anfang an eng in die Formulierung des Biden-Macron-Plans eingebunden. Inzwischen ist das von offizieller israelischer Seite bestritten.

Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass die USA oder Frankreich ohne glaubhafte Signale beider Konfliktparteien in die Öffentlichkeit gegangen wären. Offenbar zog es die Regierung unter Netanjahu vor, die westlichen Partner zu brüskieren, den Chef der Hisbollah zu töten und eine Front gegenüber dem Libanon zu eröffnen. In New York gab Netanyahu offenbar den Befehl, den Anführer der Hisbollah zu töten.

In Reaktion darauf sprachen die USA offiziell von einer Form von "Gerechtigkeit" für dessen Opfer.

Axios berichtete ähnlich wie die Times of Israel. Dort war ebenfalls zu lesen, dass die USA weiter davon ausgingen, ein Waffenstillstand sei ein guter Plan.

Politico veröffentlichte Ende September 2024 einen atemberaubenden Bericht, wonach es Einzelne innerhalb der Biden-Administration in die Hand nahmen, Israel zu seinem Vorgehen gegen den Libanon zu ermutigen – gegen den Widerstand von Teilen des Weißen Hauses, des Pentagon und der Geheimdienste, die eine regionale Kriegsausweitung fürchten.

Zu jenen, die Israel ermutigt haben sollen, gehörte laut Politico auch Amos Hochstein, der eigentlich als US-Vermittler agieren soll und in die Biden-Macron-Initiative involviert war.

Das Ganze las sich wie ein Plot einer Verschwörung.

NBS berichtete unter Bezug auf einen israelischen Gesprächspartner:

Nach dieser Version wurde Nasrallah getötet, weil er für eine diplomatische Lösung des Krieges im Gaza-Streifen war. Dieser Interpretation hat der libanesische Außenminister widersprochen. Das Einzige, was aus all den widersprüchlichen Meldungen eindeutig hervorgeht, ist, dass Nasrallah in diplomatische Gespräche eingebunden war. Das war auch der Hamas-Chef, Haniyya, der Ende Juli 2024 in Teheran einem Anschlag zum Opfer fiel.

In einer jüngeren Veröffentlichung von Axios im Oktober tauchte wieder der Name Hochstein auf. Dieser soll nun der libanesischen Seite erklärt haben, dass der Waffenstillstandsplan vom Tisch sei. Die Bedingungen hätten sich geändert.

In der Oktober-Ausgabe von Foreign Affairs äußerte sich Miller, zuletzt ein hochrangiger Verantwortlicher für die Israel-Palästina-Beziehungen im US State Department (2022 bis 2024). Er fordert, die diplomatischen Bemühungen um ein Kriegsende zu intensivieren (Shuttle-Diplomatie) und gleichzeitig mehr Druck auf alle Verhandlungspartner aufzubauen, um einen drohenden regionalen Krieg abzuwenden. Die Blockierer einer Lösung sollten öffentlich haftbar gemacht werden.

Dass die USA es in der Hand hätten, Israel durch einen angedrohten Entzug von Waffenlieferungen und militärischer Unterstützung auf den diplomatischen Weg zurückzuführen, schrieb Miller nicht. Aber er sieht schon, dass ein Weiter-so am Ende nicht nur immens viele menschliche Opfer kostet, sondern auch zur Rufschädigung der USA führt.

Die Drohung, Israel die Waffenlieferungen zu streichen, sprach der US-Präsident im Mai 2024 aus. Falls Israel Rafah angreifen würde. Diese Drohung blieb folgenlos.

Nun hat der französische Präsident Macron ein Waffenembargo gegenüber Israel ins Spiel gebracht. Die Verurteilung durch Netanjahu war ihm gewiss. Macron verwechsele Täter und Opfer.

Macron spricht nicht für die EU. Denn die ist tief gespalten. Deshalb ist es auch praktisch unerheblich, ob sich die deutsche Außenministerin die Finger wund telefoniert oder nicht. Ähnliches behaupten die USA von sich ebenfalls seit Monaten.

Der frühere französische Außenminister und Ministerpräsident Dominique de Villepin empörte sich über die westliche Politik bei France Inter am 13. September 2024: Der Westen müsse sich seine Stimme in internationalen Angelegenheiten erst wieder verdienen. Wegen der "Doppelstandards und wegen Gaza". Er sagte: "À Gaza les corps sont en morceaux! Les cœurs sont en morceaux! Les âmes sont en morceaux! Les têtes sont en morceaux!", also etwa: "In Gaza sind die Leichen zerstückelt! Die Herzen in Stücke gebrochen! Die Seelen ebenfalls! Die Köpfe sind zerstückelt!"

De Villepin fragte: Für welches politische Ziel? Immer höre er nur: Das ist der Krieg. Aber in Gaza sterbe die Zivilbevölkerung.

Das ist nicht die israelische Sicht auf die Dinge.

Wie viele in Gaza inzwischen zu Opfern wurden, ist unklar, womöglich Hunderttausende.

Die noch leben, sind vertrieben, sie hungern oder sind vom Hunger bedroht. Auch der ist ein Sensenmann, gerade für Kinder. Die Hilfsorganisationen rütteln auf, die UNO warnt.

Der Krieg nimmt seinen Lauf.

Human Rights Watch (HRW) legte im Juli 2024 einen umfassenden Bericht zu den Gräueltaten der Hamas und weiterer bewaffneter Gruppen am 7. Oktober 2023 vor. Aber HRW betonte auch, dass Gräueltaten keine Gräueltaten rechtfertigen, und Israel in der Folge des Terrors vom 7. Oktober 2023 das palästinensische Volk "kollektiv bestraft". Dieser "endlose Kreislauf der Menschenrechtsverletzungen in Israel und in Palästina" muss durchbrochen werden.

Am 18. Oktober 2023 sprach Joe Biden in Tel Aviv. Er erklärte seine volle Solidarität mit Israel, aber er sagte damals auch, Israel solle sich nicht so vom Terrorschock auffressen lassen, wie das in den USA nach dem 11. September 2001 geschah. Er sagte ebenfalls, die große Mehrheit der Palästinenser sei nicht Hamas.

Es waren gute, wichtige Sätze. Waren sie so gemeint? Gehört wurden sie nicht.