Arbeitslose beim Mindestlohn mitverhandeln lassen

Arbeits- und Sozialrechtsprofessorin Helga Spindler über den Zusammenhang von Armut und wirtschaftlicher Prosperität. Teil 2

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Die Arbeits- und Sozialrechtsprofessorin Helga Spindler ist der Überzeugung, dass ein erheblicher Teil des neuen deutschen Wirtschaftswunders auf Löhnen beruht, die nicht mehr existenzsichernd sind, weswegen sich die Armut hierzulande auf einem für die Nachkriegszeit ungewöhnlich hohen Niveau eingependelt hat. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist deshalb ihrer Ansicht nach zwar geboten, wird aber Hunderttausenden in die Selbständigkeit Abgedrängten nichts nützen, die ebenfalls von sehr geringen Einkünften leben müssen.

Zu Teil 1 des Interviews: "Armutslöhne haben eine wichtige Funktion"

Frau Spindler, Ihre These ist, dass die Armut der Arbeitslosen und der arbeitenden Bevölkerung eng zusammenhängen ...

Helga Spindler: Ja, nur leider werden diese beiden Bereiche bisher getrennt wahrgenommen. Zum Glück gibt es aber schon länger eine Debatte über die Zusammensetzung des Regelsatzes für Erwerbslose, die hilft auch die Bedarfe für Arbeitende zu entwickeln. Hier bemüht sich besonders das Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum um Verbesserungen. Eigentlich müsste es jedoch umgekehrt laufen und wir benötigten sofort Forschungsaufträge, die die Bedarfe von arbeitenden Menschen in Deutschland ermitteln und zusammenstellen. Beunruhigend ist, dass es noch nicht einmal Prüfaufträge zu diesen Themen in der Koalitionsvereinbarung gibt.

Bisher benötigt der aktivierenden Sozialstaat möglichst niedrig gehaltene Regelsätze als Antrieb für Erwerbslose, die wuchernden Armutslöhne anzunehmen. Besonders Kommunalverbände und die Bundesagentur warnen, die Regelsätze auch nur um 50 Euro zu erhöhen, weil sie wissen, dass dann Millionen Menschen, die jetzt als Arbeitende knapp über der Armutsgrenze leben, Ansprüche auf Aufstockung erhalten würden. Sie versuchen deshalb so gut es geht, den Regelbedarf niedrig zu halten. Wenn sich Löhne besser entwickeln, würde hier Druck weggenommen. Aber es bleibt die Aufgabe, sich über Existenzminima für Erwerbslose und für Arbeitende zu verständigen und nicht nur einfach Stundenlöhne in die Welt zu setzen und die dann gleich bis 2018 einzufrieren.

"Die 8,50 Euro beziehen sich nicht auf Nettolöhne"

Auf was müsste man denn achten, wenn man tatsächlich Armut wirksam mit Löhnen bekämpfen möchte?

Helga Spindler: Muss muss für die Festsetzung der Löhne die Existenzbedarfe eines Arbeitenden, also die Lebenshaltungskosten von Arbeitenden ermitteln. Das gilt für alle, die das festsetzen sollen, wen auch immer man in eine Kommission setzen wird: Tarifparteien, Wissenschaftler, Verbandsvertreter oder Politiker. Es hilft jedenfalls überhaupt nichts, von "unabhängigen Experten" oder "den Tarifparteien" zu schwärmen, ohne deutlich zu machen, welche Kriterien sie berücksichtigen sollen.

Außerdem würde ich die Mini- und Midi-Joblöhne, so lange von ihnen kein nennenswerter Betrag zur Sozialversicherung gezahlt wird, zunächst von der Einbeziehung in den Bruttomindestlohn ausnehmen. Eine Lohnuntergrenze ist zwar auch dort notwendig, aber die 8,50 Euro beziehen sich nicht auf Nettolöhne. Netto entsprechen 8,50 Euro nicht mehr als 6,80 Euro und das auch noch steuerfrei.